Glaubenssache

21:24 Edit This 1 Comment »
Glaubenssache

Allah und ich, wir werden keine Freunde, soviel steht fest. Und vermutlich komme ich dafür in die Hölle. Vielleicht nicht für meine Trunkenheit, auch nicht für meine unkoscheren Gedanken oder den Sex vor der Ehe, die ich nicht haben will. Ich glaube einfach nicht an ihn, und laut der Aussage eines gläubigen Moslems ist das Grund genug.

Ich sitze auf der Terrasse eines Häuschens im Internat und sehne mich nach einem Bier. Eine Katze hat es sich auf meinem Schoß bequem gemacht; sie sucht ein bisschen Ruhe vor ihren zwei Wochen alten Babys. Es dämmert bereits und ich versuche mich nach dem Tag in Terengganu zu entspannen. Ein junger Mann, natürlich Moslem, ist bei mir und unsere Unterhaltung führt unweigerlich zu seiner Religion. Nach dem Interview mit Mek Wok haben sich Fragen in mir aufgestaut, die ich beantwortet haben will. Zum einen wäre da die verflixte Ehe. Für die meisten Moslems ist dieses Ereignis Dreh- und Wendepunkt in ihrem Leben, aber ab da gibt es meistens kein Zurück mehr. Sich scheiden zu lassen ist nicht gern gesehen, und schon der Weg dorthin eine Hürde. Ich werde zunehmend ungläubiger, je länger ich mich mit dem jungen Mann unterhalte. Und ärgerlich. Meine feministische Seite ist vielleicht ausgeprägter als die anderer Frauen, aber jeder Dummkopf auf der Welt würde diese Religion als ungerecht bezeichnen, wenn er unser Gespräch hören würde. Die Ehe ist eine Pflicht – schon allein diese Tatsache stößt mir bitter auf. Das ist ja wie im Strafvollzug – wo bleibt da die Freiheit? Und erst recht die Liebe?  In meiner Kultur – ich sage nicht Religion, denn die habe ich nicht  - ist die Ehe doch ein Zeichen dafür, dass man sich so sehr liebt, dass man sich sicher ist, sein Leben mit diesem Menschen teilen zu wollen. Im Islam ist schon die Voraussetzung dafür eine ganz andere: die Familien bestimmen meistens, wer wen heiratet. Meistens kennen sich die beiden gar nicht. Ich denke an Mek Wok, die, als sie 25 war, mit einem 14jährigen verheiratet wurde. Warum um alles in der Welt! Welchen Sinn macht das?? Die Ungerechtigkeit nimmt kein Ende: ein Moslem könnte eine Jüdin oder eine Christin heiraten – allerdings nur dann, wenn sie seinen Glauben annimmt. Eine Moslemin allerdings darf nur einen Moslem heiraten. Warum? Man weiß es nicht. Jeder Moslem darf vier (!) Frauen heiraten; ja, auch heute noch, und ich frage mich ernsthaft, ob das damals in Mohammeds Sinne war, als er sich über seinen Schreibtisch beugte und den Essay über den „perfekten Moslem“ schrieb. Betrunken war er vermutlich nicht, denn Alkohol ist ebenso eine Sünde wie die Scheidung. Wer auch immer Mohammed damals ins Ohr geflüstert hat, was er den Menschen mit auf den Weg geben soll, derjenige hatte etwas gegen Frauen. Sie darf sich nur dann scheiden lassen, wenn sie dieses Recht bei der Heirat verlangt hat. Hat sie das nicht, muss sie vor Gericht gehen und es einklagen. Klingt fast so, als hätte sie eine ernsthafte Möglichkeit das zu tun. Man darf dann nur nicht fragen, woher sie das Geld dafür nimmt oder ob sie überhaupt so weit kommt. Denn um das Haus zu verlassen, muss sie ihren Ehemann schließlich um Erlaubnis bitten. Der Mann darf sich übrigens ohne Weiteres scheiden lassen.
Ich muss mich zügeln, nicht aufzuspringen, meine Kleider vom Leib zu reißen und nackend über das Internatsgelände zu laufen; mit einer Tröte im Mund und einem Plakat in der Hand: „Allah was wrong!“ Ich versuche ja  zu verstehen, was mir der junge Mann an meiner Seite da zu erklären versucht. Aber je länger wir uns unterhalten, umso mehr verschließt sich der Sinn des Ganzen vor mir. Es gibt zu viele Ungerechtigkeiten in dieser Religion. Sie ist verstaubt und gehört ins Mitterlalter. Der Islam passt sich dem Heute nicht an. Er will es auch gar nicht.

Es ist Zeit für sein Abendgebet. Er geht ins Haus; ich warte stillschweigend auf der Terrasse. Ab und zu laufen ein paar Schüler vorbei. Die Jungs in kurzen Hosen und T-Shirts; sie lachen ausgelassen und machen Späßchen als sie mich sehen. Die Mädchen sind von Kopf bis Fuß verhüllt, sie schwitzen unter ihren Kopftüchern und senken den Blick, wenn sie an mir vorbei kommen. Während er gen Mekka betet, für was auch immer, stelle ich mich unter die Dusche. Meine einzigen sauberen Sachen, die ich bei mir habe, sind ein schulterfreies Tanktop und ein kurzer Rock. Für einen Moment zweifle ich, ob ich mich damit sehen lassen kann, verwerfe den Gedanken aber sofort. Obwohl es schon später Abend ist, sind es noch immer 35 Grad. Als ich raus komme, sitzt der junge Mann mit ein paar Freunden auf der Terrasse. Sie wenden den Blick ab, als ich raus komme und ich werde höflich gebeten, mich doch „etwas mehr zu bedecken“. Etwas widerwillig kehre ich um und ziehe ein müffelndes  T-Shirt an. Ich fühle mich unwohl. Nicht, weil ich ein Problem mit langen Ärmeln hätte, sondern weil ich mich in meiner Freiheit beraubt fühle. Ok, ich bin hier, und ich muss mich anpassen. Aber laufen in Deutschland nicht auch überall Frauen mit Kopftuch rum und erwarten wir etwa, dass sie es ablegen?

Seine Freunde gehen nach Hause, wir unterhalten uns weiter. Langsam fange ich an, meine eigene Religion ernsthaft in Frage zu stellen. Aber da gibt es nichts in Frage zu stellen, denn ich habe keine. Ich glaube nicht an den bärtigen Mann, der an der Himmelspforte wartet und mir die Leviten liest. Entsprechend gibt es auch keinen Allah oder Buddha oder sonst wen. Es gibt meine eigene Wahrheit. Für alles andere bin ich viel zu sehr Realistin, in anderer Augen noch eine böse Feministin dazu und einige würden mich vermutlich auch der Blasphemie beschuldigen wenn ich ihnen ernsthaft meine Ansichten erkläre. Nein, ich bete nicht fünfmal am Tag und ich hebe mich auch nicht für einen Mann auf. Ich bin eine autonome Frau, die selbstbestimmt durch ihr Leben geht und ihre eigene Wahrheit hat. Ich betrinke mich regelmäßig und liege im Sommer barbusig am Strand. Ich zeige, was ich habe und sehe Männer nicht selten als netten Zeitvertreib. Vielleicht ist das nicht der beste Weg, zu leben, aber zumindest ist es mein eigener. Vielmehr glaube ich daran, dass wir für das, was wir in unserem Leben tun und wie wir es tun, irgendwann eine Antwort bekommen. Ob nun Allah oder Jesus oder sonst jemand über uns urteilt. Wichtig ist doch nur, dass wir menschlich durchs Leben gehen. Mit guten Absichten, mit Respekt anderen gegenüber, ohne Vorurteile und ohne zu urteilen. Ich möchte in den Spiegel sehen können und zufrieden sein. Mit mir und mit den Dingen, die ich tue. Mit den Menschen um mich rum und mit meinen Werten, die ich von meinen Eltern mitbekommen habe. Ich möchte zu einer „besseren“ Welt beitragen. Ich möchte kritisch sein dürfen und gleichzeitig offen für die Meinungen anderer. Zumindest in dem Punkt der „Antwort“ stimme ich dem Islam zu. Wenn auch in abgeschwächter Form: der Tag des „jüngsten Gerichts“, an dem die Menschen für ihre Taten zur Verantwortung gezogen und entweder mit dem Höllenfeuer bestraft oder dem Paradies belohnt werden.

Der junge Mann und ich kommen an einen heiklen Punkt. Er ist ein denkbar offener Mensch, der mich nicht verurteilt (für meine Fahrt in die Hölle hat Allah bereits in Ticket gelöst). Aber die Frage nach seinem Gott ist ein schwieriges Thema und ich bin beeindruckt von seinem unerschütterlichen Glauben. Er sagt, Allah habe die Welt erschaffen. Ich sage, es war der Urknall. Eine einfache, chemische Reaktion im Universum. Ich frage, wie er diesen Fakt ignorieren könne, immerhin gibt es Beweise. Dann hat Allah eben den Urknall gemacht. Schachmatt. Ich bin erledigt.

Das Baby ist ausgebüchst. Die Katze springt von meinem Schoß, schnappt es im Nacken und trägt es zurück in den Karton. Und auch mein Gegenüber macht sich auf den Heimweg. Mir dröhnt der Kopf. Ich komme zu dem Schluss, dass der Islam wohl keine schlechte Idee war. Er hilft den Menschen; auf die eine oder andere Weise. Und 1,4 Milliarden Muslime können sich ja nicht so grundlegend irren. Trotzdem bin ich froh, nicht dazu zu gehören. Dafür gibt es zu viele unsinnige Gesetze in dieser Religion und solange die Frauen noch immer als minderwertig betrachtet werden, ändere ich meine Meinung nicht. Sollte Allah mir tatsächlich irgendwann meine Sünden vorhalten, werde ich ihn zu einem Kaffee oder vielleicht doch zu einem Bier einladen und ihm ordentlich den Kopf waschen. Ich werde ihm sagen, dass er sich damals geirrt hat. 

Als ich endlich alleine bin und zum ersten Mal zur Ruhe komme, laufen noch zwei junge Mädchen vorbei, die sich einfach zu mir setzen und mich ausfragen. Was sie in den Ferien machen könnten; sie würden vielleicht nach Europa fliegen dürfen. Ich sage, macht das, da ist es schön und empfehle ihnen nicht, was mir Spaß macht, denn das bringt mich schließlich in die Hölle. Ich lasse den Teil mit den Diskos, Alkohol und Männern weg und stelle erstaunt fest, dass mir dann auch nicht mehr viel einfällt, außer sie ins Museum zu schicken. Aber auch da wären sie wahrscheinlich nackten Büsten ausgesetzt. 

Das kleine Kätzchen (ich bin sicher, es ist ein Mädchen) versucht schon wieder, aus dem Karton zu flüchten. Ohne Kopftuch. Seine Katzenmama schaut mich ratlos an und ich blicke genauso verdattert zurück. Sie macht es schon richtig, denke ich, und gehe ins Bett.

Taktvoll

07:41 Edit This 0 Comments »
Taktvoll

Wenn an einem gewöhnlichen Nachmittag in Kuala Lumpur plötzlich ein Trommelwirbel erklingt, dann ist ein Mann dafür verantwortlich. Seine Mission: die Menschen dieser Welt vereinen. Für ein paar Stunden, mit einem einfachen Rhythmus.

Ein Sonntagnachmittag, ein  grau gepflasterter Platz nahe der Innenstadt. Die Hitze flimmert auf den öden Steinen, in ihrer Mitte verharrt ein Springbrunnen in seiner Unbeweglichkeit, nur sein Wasser plätschert leise vor sich hin. Am Rande stehen zwei kleine Läden; sie wirken verschlafen, wie ihre Verkäufer, die im Schatten sitzen und in die Leere starren. Es herrscht eine anonyme Ruhe, die gelegentlich von einzelnen Passanten durchbrochen wird. Langsam schlurfen sie an den Holzbänken vorbei, auf die sich niemand setzen mag. 
Als ein älterer Mann den Platz betritt, scheinen die Verkäufer aus ihrer Starre zu erwachen. Sie springen auf, winken und verschwinden hinter Vorhängen. Auffällig ist der Mann nicht, er trägt Jeans und ein Basecap. Sein Gang ist schleppend und beim Laufen beugt er sich vornüber. Der Grund dafür ist ein überdimensionaler Rucksack und zwei weitere in je einer Hand. Am Springbrunnen macht er Halt, schaut sich kurz um und stellt sein Gepäck ab. Er öffnet den Reißverschluss des Rucksacks und holt eine große Trommel hervor. Sie ist aus Holz gearbeitet, mit Kuhleder bespannt und durch bunte Bänder verziert. Der Mann schlägt einmal mit der flachen Hand auf die gegerbte Haut, ein dunkler dröhnender Ton klingt über den Platz. Zufrieden packt er auch die anderen Trommeln aus. Jede wird mit einem kräftigen Schlag auf ihre Tauglichkeit getestet. In diesem Moment kommen die Verkäufer aus ihren Geschäften. Sie bringen ein paar graue Plastikhocker, die sie in einem Kreis um den Mann herum platzieren. 
Paul heißt er. Oder Trommel-Paule, wie seine Freunde ihn nennen. Seit 1996 kommt er jeden einzelnen Sonntag an diesen Platz. Zweiundfünfzig mal im Jahr, auch bei Regen. Er spielt Gitarre und Ukulele und bezeichnet sich als Idealisten. Ein Weltverbesserer, ein bisschen auch Traumtänzer, der unerschütterlich an das Gute in den Menschen glaubt. „Die malaysische Politik trennt die Menschen. Wir entfernen uns immer mehr voneinander.“ Das Trommeln bringe die Leute wieder näher zusammen, sagt er entschlossen und winkt eine Gruppe kalkweißer Mädchen heran, die sich am Rande des Springbrunnens herum drücken. Zögernd kommen sie näher und nehmen sich eine der Rasseln. Später werden sie den Platz glücklich verlassen; Paul weiß das. Es sei immer das Gleiche – erst traut sich keiner, dann kommen sie aus sich raus, früher oder später, und dann wollen sie nicht mehr weg.

Paul setzt sich auf einen der Hocker, klemmt seine Trommel zwischen die Knie und wird ganz ruhig. Er lässt Kopf und Arme hängen, schließt die Augen. Der Platz verfällt mit ihm in einen Sekundenschlaf, sogar die zwitschernden Vögel halten für einen Moment den Schnabel. Kein Ton ist zu hören, alle starren gespannt auf den konzentrierten Mann. Dann plötzlich spannt sich sein Rücken und ein Feuer entfacht in seinen Augen. Jetzt schnellen seine Hände  auf die Trommel herab; wie wahnsinnig drischt er auf das Leder ein und hämmert einen mitreißenden Rhythmus; dumpfe Bässe mit der flachen Hand, mit den Fingerknöcheln blecherne Töne.  Laut und durchdringend schnellen die Takte in alle Richtungen. Sobald sie in die Ohren der Passanten dringen, bleiben sie stehen,
 als bräuchte der Ton eine Weile, um einzudringen. Dann, unweigerlich, müssen sie sich bewegen. Erst zögerlich, bald schneller. Sie zucken mit den Schultern, der Kopf beginnt zu wackeln, auch die Füße wollen nicht mehr still halten. Keiner kann sich den Rhythmen entziehen. Mit einem Mal ist der Platz mit Menschen gefüllt, die sich zu einer zappelnden Masse vereinen. Als würden sie sich gegenseitig anstecken, beginnt jeder irgendeinen Körperteil zu bewegen. Ein kollektiver Rausch, ein Zuckeln und Ruckeln um den Mann mit der Trommel.
„Where are you from?“, schreit Paul zur anderen Seite des Springbrunnens.  „Greek!“, brüllt ein zotteliger junger Mann zurück. „Keep your money, you will need it“, lacht Paul und trommelt unbeirrt weiter. Er kennt sich aus in der Welt, in der Politik, auch mit der Wirtschaft und er weiß um die kulturellen Barrieren zwischen den Menschen. Viel gereist, erklärt dieses Wissen plump. In seinen Augen kann man die Erfahrungen sehen, die er machte. Kleine Fältchen erzählen eine lange Geschichte. Er spricht ruhig und langsam, als könne ihn nichts auf dieser Welt  erschüttern. Beim Trommeln sowieso nicht. Die weißen Mädchen haben den Rhythmus nicht im Blut, sie rasseln gegen Pauls Takt an, es klingt unharmonisch. Paul schnippt mit seinen Fingern und schüttelt seine imaginäre Rassel, die Mädchen tun es ihm gleich. Schon spielen sie wieder gemeinsam.
Die Gemeinsamkeit. Sie ist es, die an diesem Platz entsteht. Ein Gefühl der Einheit, das die Menschen ausfüllt. Sie trommeln zusammen, als gäbe es keine Rassenpolitik, keine sozialen Unterschiede oder Hautfarben. Es gibt keine Konkurrenz und keine Kritik. Jeder kann trommeln, sagt Paul; im Gegensatz zur Musik ist es nur ein Rhythmus, und der ist keine Frage des Geschmacks. Oder der Herkunft.
Mittlerweile ist der Platz zu einem multikulturellen Land geworden, ein Mikrokosmos; die Welt in ihrer Miniaturausgabe: Eine Familie aus Italien, die noch nie in Asien war. Der australische Backpacker, der seit zwei Nächten nicht geschlafen hat. Eine alte Chinesin, auf der Durchreise. Sogar ein Neugeborenes in den Armen seiner Mutter, wo es eine Plastikrassel schüttelt. Schon im Takt, natürlich. Die Atmosphäre ist berauschend. Jeder trägt seinen Teil dazu bei, mit Trommeln, Rasseln und Percussions, manche klatschen einfach nur in die Hände. In diesem Moment, an diesem Platz, sind alle gleich. 
Zwei Stunden später beginnt es zu dämmern und Paul schlägt ein letztes Mal kräftig auf das Leder. Er bedankt sich für die „großartige Session“ und verabschiedet sich bei jedem mit einem Handschlag. Nach und nach verlassen die Menschen den Kreis, mit einem eigentümlichen Lächeln im Gesicht. Als alle verschwunden sind, liegt der Platz wieder in aller Ruhe da. Das Wasser im Springbrunnen plätschert noch immer vor sich hin, die Vögel zwitschern ein leises Lied, und die Holzbänke werden von der Dunkelheit verschluckt. Wer jetzt vorbei kommt, der wird verwundert stehen bleiben, weil er ein seltsames Gefühl verspürt.  Es sind die Reste der Zusammengehörigkeit, die sich langsam auflösen.




Mek Wok heißt "alte Frau"

06:58 Edit This 0 Comments »
Mek Wok heißt "alte Frau" 

Ich sitze im Luftzug des Ventilators und schwitze fürchterlich. Das winzige Häuschen von Mek Wok ist ärmlich eingerichtet. Zwei abgewetzte Sofas und ein Tischchen füllen den kleinen Raum komplett aus, an der Wand hängen kitschige Bilder und Plastikblumen. Die Tür zum Hof steht offen; der bunte Hahn, der vorbei stolziert will nicht so recht in die Umgebung passen. Die Hitze flimmert zwischen mir und den zwei Angehörigen von Mek Wok. Ihre jüngere Schwester und ein Mann ohne Zähne starren mich an. Ich nehme einen Schluck von dem viel zu süßen Tee, während Ja'a, mein Dolmetscher neben mir sitzt und an seinem Handy rumfummelt. Ich weiß nicht, wohin mit mir und kritzele Dreiecke in mein Heft neben die Interviewfragen, die ich der alten Dame stellen möchte. Plötzlich kommt sie um die Ecke; ein breites, zahnloses Grinsen im Gesicht. Mek Wok ist gerade mal einen Meter fünfzig groß und kann nicht mehr als 20 Kilo wiegen. Ich habe Angst, ihre knochige Hand zu brechen, wenn ich sie drücke. Aber die Lady hat einen kräftigen Händedruck und kneift mir zum Beweis fest in meine Wange. Ich werde rot, alle lachen und die angespannte Stimmung wird vom Ventilator weg gepustet. Ja'a übersetzt meine Worte an die alte Frau: wie sehr ich mich freue, sie endlich gefunden zu haben und danke, dass sie Zeit für mich hat. Als Antwort bekomme ich eine Frage: was ich ihr denn mitgebracht hätte? Ohman, scheiße, denke ich, ein kleines Gastgeschenk wäre vielleicht angebracht gewesen. Der Freund von Ja'a schnappt sich den Autoschlüssel und fährt schnell zum nächsten Laden. Wenige Minuten später kommt er mit einer Tüte Äpfel zurück. Jetzt endlich kann es los gehen. Ich stelle meine Fragen. Am Ende würde ich Mek Wok am liebsten in die Arme nehmen. Sie erzählt wie selbstverständlich, dass sie ihren Ehemann Nummer 23 furchtbar doll liebt, ihn aber leider seit zwei Jahren nicht gesehen hat, weil er in einer Entzugsklinik einsitzt. Geld hätte sie aber eh keines, um ein Taxi dorthin zu bezahlen und ihre Familie besitzt kein Auto. Ihr Ehemann ist 38, und damit 68 Jahre jünger als sie. Viel Glück hatte sie mit den Männer nie. Der erste schlug, der zweite war ein Säufer, der dritte gerade mal vierzehn Jahre alt, als sie ihn mit 25 heiraten musste. Die Ehe hielt 3 Monate. Ihr Leben lang hat sie hart gearbeitet, als Erntehelferin und Landarbeiterin. Eine Ausbildung hat sie nie bekommen und ihre ärmliche Rente reicht jetzt gerade so zum Überleben. Da sie nie schwanger wurde, gibt es keine Kinder, die sich um sie kümmern könnten. Sie erzählt eine bedrückende Geschichte. Trotzdem, für die Zukunft wünscht sie sich nichts mehr, als ihren Ehemann besuchen zu können. In der Klinik. Sie liebt ihn. 

Während des Gesprächs streicht Mek Wok mir immer wieder über den Rücken, tätschelt meine Wange und grinst mich an. Sie hat einen echten Schalk im Nacken und ist ansteckend gut drauf. Als sie mein altes, ausgeleiertes Haargummi um meine Hand sieht, nestelt sie daran herum und Ja'a gibt mir zu verstehen, dass ich es ihr schenken sollte. Sie freut sich diebisch darüber und ich wundere mich schwer. Noch zwei weitere Stunden sitzen wir in dem kleinen Raum, trinken den süßen Tee und lachen. Naja, die anderen lachen; ich kriege den Witz immer erst dann mit, wenn Ja'a für mich übersetzt. Aber die alte Lady scheint so unbekümmert und lebensfroh, dass ich es fast fühlen kann.


Ja'a und sein Freund drücken Mek Wok zum Abschied ein paar Ringgit in die Hand und ich tue es ihnen gleich. Vielleicht reicht es ja, dass sie damit ihren Ehemann besuchen kann? Ich hoffe es für sie. 
Mit großem Respekt verlassen wir den Hof. Der stolze Hahn kräht zum Abschied und Mek Wok winkt uns wie ein kleines Mädchen hinterher. Ich bin schwer beeindruckt und glücklich über diese Begegnung. Doch der Tag ist noch nicht vorbei. Ich befinde mich noch immer in der tiefsten muslimischen Provinz, was mich noch einiges lehren soll...

Spinat - Deutschlands Nationalgericht

03:55 Edit This 0 Comments »
Spinat - das deutsche Nationalgericht

30 Augenpaare starren mich an. Dann entsteht ein allgemeines Kichern und Getuschel. Ich sehe mich einer Schulklasse gegenüber, jeder soll sich eine Frage ausdenken, die er „der Deutschen“ stellen möchte. Wie mir Malaysia gefällt; gut, danke; und was ich hier in Terengganu mache; woher aus Deutschland ich komme und wie lange ich unterwegs sein werde. Was ich studiere und was ich für Hobbies habe. Ich bin furchtbar nervös. Obwohl sie wirklich nett sind, aber alles, was ich sage, wird natürlich für bare Münze genommen. Da komme ich plötzlich ganz schön ins Schleudern, als ein junges Mädchen fragt, was denn Deutschlands Nationalgericht sei. Ich fasele etwas von Kartoffeln – vielleicht nicht ganz so abwegig, aber dann rutscht mir auch noch „Spinat“ raus. Welche freudsche Assoziation hat mich denn da geritten, zum Teufel? Aber es gibt kein Zurück und nun denken dreißig Menschen auf dieser Welt, die Deutschen seien ein Spinatvolk. Toll, Marthe.
Die folgenden zwei Stunden werde ich rumgereicht wie ein Wanderpokal. Der Schulhof, die Lehrerzimmer; alle wollen die exotische Ausländerin sehen. Mir dröhnt der Kopf. Und eigentlich habe ich einen ganz anderen Auftrag: die Suche nach der alten Lady. Im Mathematikdepartment finde ich einen Lehrer, der angeblich weiß, wo sie wohnt. Er bietet mir sogar an, mich als Dolmetscher zu begleiten; denn ihren Dialekt spricht vermutlich niemand. Ich willige dankend ein – mit einem Kopfnicken, das mit dem Händeschütteln lasse ich wissentlich bleiben. 

Der Lehrer namens Ja’a, Nizam, sein Onkel und ich verabreden uns für den Nachmittag. Doch bevor ich gehen darf, muss ich noch zur Sportstunde. Nizam hat seinen Schülern versprochen, dass ich auch dort noch vorbei komme. Als ich den Platz betrete, herrscht wieder helle Aufregung. Wieder muss ich Fragen beantworten, für Fotos herhalten und tausende Hände schütteln. Natürlich nur die der Mädchen. Alle stehen brav in einer Schlange und warten, bis sie an der Reihe sind. Als ich endlich gehen darf, bin ich völlig geplättet. Drei Stunden bleiben mir nun noch, um mich zu regenerieren und mich auf das Interview vorzubereiten. Wenn wir sie dann finden. 

Wir fahren zu dem Haus, wo sie wohnen soll. Irgendwo in der Pampa steht eine kleine Holzhütte. Ein junger Mann gibt Auskunft, dass sie nicht im Ort sei, sondern 200 Kilometer entfernt, um ihren Ehemann zu besuchen. Ich werde schon mutlos, da sagt er, er hätte ihre Handynummer! Die alte Dame hat ein Handy?? Ich muss lachen, wie einfach! Nizam ruft an und findet heraus, dass sie doch hier ist, nicht weit von uns, und macht einen Termin für den Nachmittag. Endlich, denke ich und wir fahren.  

auf der Suche nach der alten Lady...


Catch me if you can

05:23 Edit This 0 Comments »
Catch me if you can

Ich bin so heftig mit einer Religion zusammengestoßen, dass mir von dem Aufprall noch immer der Kopf brummt. Dieser Eintrag würde manchen sicher bitter aufstoßen, wenn sie ihn zu Ende gelesen haben, aber die Sache beschäftigt mich so sehr, dass ich sie loswerden muss. Und zwar so, wie ich sie sehe, mit meiner Erziehung und meiner Kultur und meiner Art, zu leben. Feminismus nicht ausgeschlossen.

Donnerstagabend. Ich sitze im Flieger Richtung Terengganu, eine Provinz im Norden Malaysias. Für meinen nächsten Artikel soll ich nach einer steinalten Frau suchen, die angeblich nochmal heiraten möchte. Via Couchsurfing habe ich einen jungen Mann in meinem Alter ausfindig gemacht, bei dem ich übernachten und der mir bei der Suche helfen kann. Im Flugzeug sitze ich neben einem Mädchen mit Kopftuch, wir kommen ins Gespräch. Ich nutze die Gelegenheit und frage sie nach den wahren Gründen für den Kopftuchzwang. Um sich selbst zu schützen, ok. Vor den Männern, auch das macht Sinn. Aber dass sie es erst ablegen darf, wenn sie verheiratet ist, lässt mich stutzen. Ich frage weiter und mit jeder Antwort werde ich ungläubiger. Sie hat einen Freund, aber der darf sie nicht berühren. Sie liebt ihn, aber er darf sie nicht küssen. Sex ist völlig ausgeschlossen, und zwar so lange bis sie seinen Ring am Finger trägt. Bis dahin dürfen die beiden nicht einmal allein in einem Raum sein. Wie man sich denn da kennen lernen könne, wundere ich mich. Wie sie sicher sein kann, sich gegenseitig „riechen zu können“. Sie ahnt, was ich damit meine und bekommt große Augen. Es wird ihr offenbar langsam unangenehm und so lasse ich meine indiskreten Fragen. Aber ich will Antworten, und ich werde sie bekommen.

Am Flughafen holt mich Nizam mit zwei Freundinnen ab. Und einem Onkel, der nicht spricht. Zumindest nicht mit mir. Als ich ihn die Hand zur Begrüßung anbiete, scheinen alle für einen Moment zu erstarren und ich rechne fast damit, dass er mir seine nicht reichen will. Einen Wimpernschlag später ergreift er sie dann doch; ich bin erleichtert, die anderen sehen verlegen weg. Ich verstehe gar nichts mehr. Bin ich ihm so unsympathisch? Später wird Nizam mir erklären, dass auch diese Art der Berührung in seiner Religion verboten ist.

Wir fahren auf einen Nachtmarkt, um etwas zu essen. Mit skeptischen Blicken werden wir von den Einheimischen verfolgt. Ich bin die einzige mit kurzärmligem T-Shirt und ohne Kopftuch. Wenigstens schlabbert eine lange Hose um meine Beine. Dass es hier so rigoros vor sich geht, konnte ich nicht ahnen und gehe im Kopf meine Kleidung durch, die ich im Rucksack bei mir trage: Knappe Kleidchen und kurze Hosen. Natürlich, etwas anderes besitze ich gar nicht. Wozu auch, bei 35 Grad?! Aber je länger ich mich mit meinen Gastgebern unterhalte, desto mehr verstehe ich die Religion. Und umso mehr regt sich ein gewisser Widerwille in mir. Zu viele ihrer Ansichten kann ich nicht nachvollziehen, so sehr ich mich auch bemühe und meine Vorurteile abzulegen versuche. Das meiste halte ich für übertrieben und unsinnig, behalte dieses Urteil aber lieber für mich. Erst recht, als wir an Nizam’s Wohnung ankommen. Es ist spät und ich freue mich auf eine Dusche und ein weiches Bett. Er hat vier Räume, einer davon ist ein Gästezimmer. Aber schlafen darf ich hier nicht. Stattdessen gehe ich mit seiner Bekannte Nisa in ihre „Wohnung“, ein baufälliger Verschlag mit zwei winzigen Zimmern. Zu zweit wohnen sie hier, weil sie sich vor Geistern fürchten. Auch ich habe Angst. Das Bett ist zu kurz und zu klein und ich rechne damit, rauszufallen, auf Nisa drauf, die neben mir auf dem Boden schläft. Ich schwitze und in der Nacht habe ich einen heftigen Alptraum. Ob das ein erster Gruß von Allah ist?!

Am nächsten Morgen stehe ich um halb sieben noch schlaftrunken vor der Haustür und rauche eine nach dem Stress. Jetzt wird mir klar, wo wir sind. Ein Dutzend Teenager läuft an mir vorbei; junge Mädchen in Schuluniform, die mich von oben bis unten mustern. Ich grüße freundlich und konzentriere mich auf die zwei Babykätzchen die um meine Beine streichen. Ich soll Nisa zu ihrer Klasse begleiten. Sie ist Englischlehrerin und meint, dass es den Schülern gut täte, wenn sie sich mit mir unterhalten. Was an diesem Tag noch alles folgen soll, ahne ich noch nicht, als wir die Tür hinter uns schließen.



Fotsetzung folgt...

Weihnachten am Fluss

07:24 Edit This 2 Comments »
Weihnachten am Fluss

Ich gebe zu, man hätte unseren Trip besser planen können. Aber wie immer legte ich den gestrigen Tag unter die Kategorie "Abenteuer" ab; was es dann auch geworden ist. Schon die Busfahrt in das 60 km entfernte Kuala Selangor war ein Erlebnis: die Schlaglöcher in der Straße hielten Carolin und mich ebenso vom Schlafen ab wie ein allzu aufdringlicher Asiate. Er nennt uns "baby" und versucht sich in Komplimenten. Wir starren demonstrativ aus dem Fenster. Dort fliegen vorbei: Palmölplantagen, Wege voller Schmutz und Müll, Edelstahlküchen und rollerfahrende Männer mit Kindern, ohne Helm. Die ganze asiatische Kultur mit ihren Ecken und Kanten.
Zwei Stunden später erreichen wir einen verschlafenen Busbahnhof, unsere Endstation. Von hier müssen wir noch 5 Kilometer überwinden, dann sind wir endlich an unserem Ziel. Die Sonne verschwindet langsam hinter den niedrigen Häusern, davor sitzen ein paar Einheimische und mustern uns. Wir sehen wohl etwas verloren aus. Ein nett aussehender, älterer Herr kommt schlurfend auf uns zu und bietet an, uns für super günstige 15 Ringgit zu fahren. Ein unschlagbares Angebot! Wir lehnen ab. Schon lange haben wir gelernt, dass alle immer und unentwegt an unser Geld wollen. Es wird verhandelt, gefeilscht und gestritten, solange, bis man sich einigt oder, wenn man sich festgefahren hat, einer der beiden das Theater beendet. In diesem Fall sind wir es, die sich nach 10minütigem Hin- und Her genervt abwenden. Es geht hier nicht um ein paar lausige Cents, sondern, typisch Deutsch, ums Prinzip. Eher untypisch deutsch beschließen wir, ein paar junge Männer zu fragen, die allzu cool an ihre Roller lehnen. Schon als wir ankamen, wurden wir von ihnen mit Pfiffen und Winken begrüßt. Ach wie freundlich, denken wir und gehen entschlossen über den Bahnhofsplatz.
"Nach Bukit Belimbing möchten wir bitte", und ob sie nicht Lust hätten, uns zu fahren?
"Blingbling?" "Nein, nicht Blingbling, Bukit Belimbing!" Ich bin mir meiner Sache sicher; habe ich den Namen doch im Lonely Planet gelesen!
"Blingbling?!" Seufzend und zunehmend genervt frage ich mich, ob sie hier ihre eigenen Ortsnamen nicht kennen; besinne mich aber an meine Unzulänglichkeiten und versuche es mit einer anderen Betonung.
Mittlerweile sind wir von etwa 10 Malaysiern umzingelt; alle reden gleichzeitig, es ist ein heilloses Durcheinander! Die Angebote werden sogar noch unverschämter: ein alter Mann, der noch nie in seinem Leben einen Munddoktor gesehen hat und bös nach Alkohol riecht, haucht mir mit einem fiesen Grinsen ins Gesicht: "40 Ringgit to Blingbling!"
Mir reichts. Von dem unverhofften Elend seiner Beißerchen reiße ich mich los, lasse die Männer stehen und marschiere trotzig mit Carolin Richtung Hauptstraße. Notfalls trampen wir eben. Aber da hat schon längst einer seinen Freund herbei telefoniert, der mit quietschenden Reifen vor uns zum Stehen kommt. Wieder wird gnadenlos verhandelt: er will 12, wir 10. Er sagt nein, wir ja, er ja, wir nein. Ohne Aussicht auf Einigung gehen wir demonstrativ weg. Doch schon hupt er, winkt uns zurück und fährt uns schmollend nach "Blingbling", endlich! Es dämmert bereits, als wir an dem Schalter klopfen, um unsere Tickets für die Bootsfahrt zu kaufen. Glühwürmchen werden uns dort versprochen, en masse, furchtbar romantisch und ein einmaliges Erlebnis!
In zwei Stunden soll es los gehen. Wir setzen uns ein kleines Gasthaus, wo Mutti noch selbst kocht. Im Hintergrund flimmert eine Seifenoper über den Fernseher, ein Baby wird von seiner großen Schwester geschaukelt. Zwei Kätzchen kappeln sich unter unserem Tisch, während ein stolzer Hahn über den Platz stolziert. Eine ruhige Idylle um uns herum, die sich fast unwirklich anfühlt.

Ein Nasi Lemak, einen viel zu süßen Kaffe und eine dramatische Folge Soapopera weiter ist die Nacht angebrochen. Wir stehen mit einigen anderen am Steg und warten, dass unsere Bootsnummer aufgerufen wird. Alle sehen etwas dümmlich aus mit ihren neonfarbenen Schwimmwesten und ich leuchte mit meinem leichten Sonnenbrand noch ein bisschen stärker. Wenigstens kann man mich so gut sehen, sollte ich ins Wasser fallen.

Fortsetzung folgt...

Tränende Augen

03:37 Edit This 2 Comments »
Tränende Augen
Ein Blinder im Kampf gegen die Armut: Bis 2020 soll in den Entwicklungsländern niemand mehr unnötig erblinden müssen. Doch die Zeit rennt.

Das sehende Leben von Rahim Bin Dahman endete in einem dunklen Zimmer. Bis dahin war er ein gesunder Junge, der mit seiner Familie zurückgezogen in der Provinz Kedah, Malaysia, lebte und mit ausgebreiteten Armen den Flugzeugen am Himmel hinterher rannte. Ein kleiner Junge mit großen Träumen, der unermüdlich Papierflieger bastelte und sich nichts sehnlicher wünschte, als Pilot zu werden – bis er im Alter von 5 Jahren vollständig erblindete. Masern zerstörten sein Augenlicht. Das Virus krümmte die Hornhaut und trübte sie; ein ganzes Jahr dauerte es, bis auch die letzten Farben der Dunkelheit wichen.  Monate lang lag er in seinem Bett, die Eltern zogen die Gardinen vors Fenster, weil das grelle Sonnenlicht  so schmerzte. Als sie merkten, dass er sie kaum noch erkennen konnte,  war es bereits zu spät.
40 Jahre später,  nicht weit von Kedah. Ein junges Mädchen liegt vor seinem Elternhaus im Gras, spielt in der Sonne mit Murmeln. Eine Fliege setzt sich auf ihr Gesicht. Das Mädchen wedelt mit der Hand, verscheucht das störende Insekt. Zu spät. Die Fliege hat bereits ein Bakterium übertragen, an dem das Mädchen später erblinden wird. Würde jetzt ein Arzt in das Dorf kommen, könnte er den Namen für ihr Schicksal nennen: Trachom. Und würde der Arzt dem Mädchen jetzt eine antibiotische Salbe verschreiben, hätte es gute Chancen auf Heilung. Es kommt aber kein Arzt. Nicht in einem Land der Dritten Welt; nicht in eines der schmutzigen Dörfer, wo die Menschen unter der Armutsgrenze leben. Nicht hier. Schon nach einer Woche wird das Mädchen nicht mehr in der Sonne spielen, denn das Licht wird schmerzen und die Augen beginnen zu tränen. Danach wird sich eine akute Bindehautentzündung einstellen, die schon bald chronisch und wenig später zu einer Superinfektion mutiert. Jetzt wird das Auge durch andere Bakterien zusätzlich infiziert, sodass sich kleine Geschwüre und Eiter bilden. Durch die Vernarbung werden die Wimpern nach innen gebogen und so lange auf der Hornhaut scheuern, bis das Mädchen vollständig erblindet ist.

 „You’ve got mail“ ertönt eine blecherne Stimme in der Malaysian Association for the Blind (MAB). Rahim läuft mit schnellen Schritten durch sein spärlich eingerichtetes Büro – ein Schreibtisch mit Computer, ein Aktenschrank, ein Sofa für die Gäste – und greift nach dem iPhone. Sein sprechendes Auge, wie er es liebevoll nennt. Er weiß genau, wo alles liegt, es darf nur niemand etwas bewegen, dann muss er lange suchen. Rahim startet mit einem Klick den Sprachcomputer, der ihm die eingehende Email vorliest. Es gibt Probleme im Netzwerk der MAB, in der er seit 2005 als IT-Manager arbeitet. Eine beachtliche Karriere für einen Blinden; nicht schlecht, wie er selbst sagt, und schon gar nicht selbstverständlich. Denn der Zustand in den ländlichen Gegenden Asiens bringt eine erschreckende Zahl ans Licht: 90% der erblindeten Kinder werden nie eine Ausbildung bekommen. Eines von ihnen wird das junge Mädchen, das gerade die Fliege verscheucht hat. Die Sonderschulen in der Stadt werden für sie unerreichbar sein. Der Transport zu teuer, die Kapazitäten gering, lange Wartelisten an der Tagesordnung. Das Mädchen wird sich später  in das südostasiatische Drittel der weltweit 45 Millionen Blinden einreihen und damit die unverhältnismäßig hohe Zahl noch steigern.

Solche Rechnungen wären für Rahim damals fiktiv gewesen. Real dagegen war die soziale Isolation, die seine Behinderung mit sich brachte. Wie hätte er auch Fußball spielen können oder gar Fahrrad fahren, blind wie er war. Zum Außenseiter abgestempelt, weil er immerzu stolperte und seine Freunde nicht mehr erkannte. Einmal fragte er seine Eltern, was falsch mit ihm sei, und wurde ohne Antwort ins Bett geschickt. Ein Blinder fällt der Familie mehr zur Last, als dass er Hilfe erwarten könnte. Doch damit wollte Rahim sich nicht abfinden. Er drängelte und  fragte immer wieder,  wie er denn zur Schule gehen könne, er wolle doch etwas lernen. Sein sehnlichster Wunsch, Pilot zu werden, war vielleicht naiv, aber half er ihm doch, die Hoffnung nicht aufzugeben. So machte sein Vater sich auf den Weg, um nach einer Lösung für den Sohn zu suchen und fand eine Blindenschule - in Penang. Viel zu weit weg, um einen Siebenjährigen dorthin zu schicken. Rahim verbrachte noch weitere drei Jahre in dem Dorf. Mit 10 durfte er endlich gehen.

Indien, Pakistan, Hongkong, Griechenland, Vietnam, Amerika… Rahim bereiste die halbe Welt. Er sah sie nicht, aber er fühlte sie. Besonders Neuseeland habe es ihm angetan. Die Menschen so freundlich, die Luft so frisch. Sein Ehrgeiz war ungebrochen. Was sei ihm auch anderes übrig geblieben - in der Leistungsgesellschaft. Da nimmt keiner Rücksicht auf dich, ob blind oder nicht. Da musst du einfach immer der Beste sein, als Blinder sowieso. Und wenn du nicht für dein Recht kämpfst, dann hast du schon verloren.

Immer wieder musste er das tun, und seine Gegner waren nicht selten große Konzerne. David gegen Goliath, ein ungleicher Kampf. Einer seiner größten Triumphe war die Gleichstellung bei der Billigfluggesellschaft AirAsia. Noch bis vor einem Jahr verwehrte sie blinden Menschen den Zugang. Sie nahm sie einfach nicht mit. Rahim lacht darüber: Ein blinder Passagier! Dabei hatten wir doch ein Ticket kaufen dürfen! Aber in das Flugzeug steigen? Nein, was solle man denn mit solchen Menschen machen, wenn mal was passierte. Rahim organisierte mithilfe der MAB eine Demonstration. Am Flughafen Kuala Lumpur blockierten sie tagelang die Schalter von AirAsia, um auf sich und diese Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen. Mit Erfolg! AirAsia kapitulierte und bat Rahim, eine Ausbildung für die Flugbegleiter zu entwickeln. Im Gegenzug luden sie ihn zu einem Besuch in den neuen Airbus320 ein. Rahim durfte sich in das Cockpit setzen und war seinem Traum so nahe wie noch nie. Den hatte er in all den Jahren nicht aufgegeben. Mit Hörbüchern studierte er die Technik eines Flugzeugs, lernte die Namen und Gefahren der Wolkenformationen und sogar wie man notlandet. Als er dann im Cockpit saß, das Steuerruder in der Hand, da hat er sich für einen Moment wie ein richtiger Pilot gefühlt. Toll sei das gewesen; und was für ein Erlebnis!  Doch Rahim musste wieder aussteigen. Ein Blinder kann kein Flugzeug fliegen, so einfach ist das.
 „Man tut eben, was man kann. Wir versuchen, die Menschen zu sensibilisieren. Die Sehenden gehen manchmal wie Blinde durchs Leben.“  Er verübelt es ihnen nicht, aber er vermisst die Selbstverständlichkeiten. „Stellen Sie sich mal vor, Sie sitzen im Dunkeln und jemand serviert Ihnen ein seltsam riechendes Essen – da wollen Sie doch wissen, was das ist!“ Und auch für den Hinweis, dass es heiß sein könnte, sei jeder Blinde dankbar. Das Schulungsvideo für AirAsia soll noch in diesem Jahr den Vereinten Nationen vorgestellt werden. Mit bescheidenem Stolz erwähnt er das; in einem Nebensatz.

Mehr als eine Generation liegt zwischen Rahim und dem jungen Mädchen. Jahrzehnte, in denen 45 Millionen Menschen erblindeten. 45 Millionen Schicksale, von denen 80% vermeidbar gewesen wären. Durch eine Impfung gegen Masern zum Beispiel, für 10 Euro. Die Salbe gegen das Trachombakterium, schon nur noch ein paar Cent. Grauer Star – die häufigste Ursache für Blindheit, operabel. Und trotzdem, kaum dass man diesen Absatz gelesen hat, erblindet schon der nächste. In 5 Sekunden wieder einer. Die Gründe für erworbene Blindheit lesen sich bald wie eine Litanei der viel beklagten „Dritten Welt“. Hygieneprobleme, Unterversorgung, Wassermangel - Armutsblindheit fasst es kurz zusammen. Durch die schlechte Gesundheitsvorsorge fressen sich die Infektionen weiter durch das Land und ohrfeigen die vom Leben gestraften.

Wenn es nach Rahim ginge, hätte schon vor Jahren etwas geschehen müssen. Wenn man die wirtschaftliche Entwicklung in Südostasien sieht,  möchte man ihm Recht geben. Hier  berühren die Wolkenkratzer bald den Himmel; da sitzen die reichen Köpfe in der Chefetage, ganz oben, und haben einen erstklassigen Blick über das Land. Wenn die Wolken nicht zu dicht sind, können manche bis zu dem Dorf blicken, wo dem jungen Mädchen bereits die Augen tränen.  Und wenn die Wirtschaftsbosse clever wären, würden sie das schnell ändern wollen. Nicht aus Mitleid, sondern wegen der bedrohlich klingenden Zahl, die von der World Health Organisation (WHO) geschätzt wurde: 50 Billionen Euro. Einen Schaden in dieser Höhe verursachen die Erblindungen jedes Jahr durch verlorene Produktivität. Die Kosten für Rehabilitation oder Ausbildung der Blinden noch nicht eingerechnet. Und aller Hilfsmaßnahmen zum Trotz steigt die Zahl der unnötig blinden Menschen. Waren es 1975 noch 7 Millionen, sind es heute mehr als doppelt so viele. Ja, sagt Rahim, die Überbevölkerung steckt in dieser Zahl, und ja, die Menschen werden immer älter. Doch sind das nicht nur noch weitere Gründe, endlich zu handeln?

Natürlich! Aber nicht so, wie es bisher getan wurde. Die Ursachen müssen bekämpft werden, nicht die Symptome behandelt. Es ist wie bei einer Erkältung: Wer rechtzeitig Vitamin-C nimmt und sich warm einpackt, wird gar nicht erst krank. Und gar nicht erst blind würden eine halbe Million Kinder in den Entwicklungsländern, wenn sie eine billige Vitamin-A-Kapsel bekämen. Eine Veränderung muss her, und zwar schnell. Sonst wird die Zahl der Erblindungen in 10 Jahren auf 76 Millionen ansteigen. Um das zu verhindern, unterstützt Rahim zusammen mit der MAB die Kampagne Vision2020 – das Recht auf Sehen. 1999 wurde diese globale Initiative von der WHO zur Beseitigung vermeidbarer Blindheit gegründet und Rahim ist optimistisch: „Niemand soll mehr unnötig erblinden müssen.“ 

Im Gegensatz zu anderen Organisationen unterscheidet sich die Strategie der Vision2020 in einem wichtigen Punkt: Sie fordert von allen Ländern, das Sehen zu einem Grundrecht der Menschheit anzuerkennen. Dann müssten die Regierungen konsequenter handeln und wären rechtlich dazu verpflichtet, die Erblindungen zu vermeiden. Mehr Augenärzte sollen ausgebildet, mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden. Und um die ländlichen Gebiete zu erreichen, muss die Infrastruktur verbessert werden. Mit diesen Maßnahmen soll das ehrgeizige Ziel erreicht werden, allen Menschen das Recht auf Augenlicht zu garantieren. Doch dieser Weg ist steinig.

So wie der, den das junge Mädchen gerade abläuft. Hunderte Mal schon ist sie ihn gegangen, zum Wasserholen aus dem 5 Kilometer entfernten Fluss. Sie kennt jeden Busch und jede der knochigen Wurzeln, über die sie mühelos hinweg stieg. Jetzt prägt sie sich genau ein, wo die Tücken des Weges liegen. Ihre Sehleistung hat bereits nachgelassen und sie ahnt, dass es nicht besser wird. Einige Freundinnen haben sich von ihr zurück gezogen, denn das mit dem Auge ist ansteckend, das wissen sie alle.

Rahim hält noch immer sein iPhone in der Hand. Er öffnet den Internetbrowser und deutet auf einen Countdown, der dort tickt: Im Oktober 2010 ist Halbzeit. Am „Tag des Sehens“ wird die WHO ihren Report über Erfolg oder Misserfolg der letzten zehn Jahre veröffentlichen. Dann ist vielleicht auch der steinige Weg geteert und vielleicht kommt dann ein Bus in das kleine Dorf, um das blinde Mädchen zur MAB zu bringen. Dann wird Rahim ihr beibringen, wie sie den Computer bedient und wie die Technik ihre Augen ein Leben lang wird ersetzen müssen. Sie wird lernen, ohne fremde Hilfe eine Straße zu überqueren und wie man die Brailleschrift auf den Tasten des Geldautomaten entziffert. Mit ihrem Gehstock wird sie den geriffelten Steinen im Bordstein folgen und ihren eigenen Weg finden müssen.

Rahim kennt das junge Mädchen noch nicht. Aber wenn er von ihr spricht, hat er Tränen in den Augen.

Marthe Rennert

kuriose Begegnung und nackte Tatsachen

06:56 Edit This 0 Comments »
kuriose Begegnung und nackte Tatsachen

Wie Gott mich schuf, so spazierte ich heute morgen durch mein neues Haus. Seit meine Kollegin für einen Monat in Deutschland urlaubt, bin ich stolze Übergangsbesitzerin einer 100qm-Luxuswohnung mit eigenem Pool und netten Nachbarn. Und, das hatte ich vergessen, als ich so nackig herumlief, einer Putzfrau!
Vermutlich haben sich ihre Eindrücke der Deutschen nun um wenigstens ein Nomen erweitert: Freikörperkultur! Daran schließen sich unweigerlich Wörter wie eigenartig, spinnert, ominös... und eben nackt. Als wir uns plötzlich gegenüberstehen, sie im geblümten Reinemachekleid, ich mit Kaffee und sonst nichts, springe ich augenblicklich hinter die nächstbeste Tür, schäme mich und stammele etwas wie "sorry, äh, nice to meet you?", woraufhin sie laut loslacht und dasselbe erwidert. Später wischt sie mit ihrem Mob um meine noch nackten Füße; weiter aufwärts bin ich endlich bekleidet und noch höher rot angelaufen. Es ist immer noch peinlich!
Als Bi mein neues Haus auf Hochglanz poliert hat und sich mit einem breiten Grinsen verabschiedet, glaube ich, allein zu sein und versuche, mich auf meinen Artikel zu konzentrieren. Doch das will nicht so recht gelingen, denn ich fühle mich beobachtet. Argwöhnisch blicke ich durch die Fenster. Nichts. Ich rede ich mir ein, dass der Schreck von heute morgen noch in den Knochen sitzt. Das funktioniert ein paar Minuten, bis sich mir wieder die Nackenhaare aufstellen. Jetzt reicht's aber! Todesmutig stürze ich auf den Balkon und will schon rufen, wer dort ist, und was er will, der Bösewicht, der Eindringling; da sehe ich meinen Nachbarn auf der Mauer sitzen! Er hat keine Hose an und mustert mich mit großen Augen; als wäre ich hier die Exhibitionistin!
Der behaarte Gast schreit plötzlich markerschütternd los und flüchtet mit einem 2-Meter-Sprung in den nächsten Baum! Blöder Affe, denke ich fahrig, wer erschreckt hier denn wen, und überhaupt, wer stiert denn erst so neugierig in mein Wohnzimmer und bleibt dann nicht mal für ein Foto! Wie zur Antwort faucht es über mir...
Na warte, denke ich, so nicht, mein Freund, ich kenne deine Schwächen! Wild entschlossen, ein Foto von dem feigen Tier zu schießen, suche ich im Kühlschrank nach einem Köder und finde: Nüsse! Genau das Richtige! Einige Minuten später liege ich mit der Kamera auf der Lauer, den Finger auf dem Auslöser. Und ich fühle mich in meinem grandiosen Einfall bestätigt, als der Affe anbeißt - denn den Cashewkernen kann er nicht widerstehen. Keine zwei Meter entfernt setzt er sich fettwanstig neben die Porzellanschale (so ein exklusives Dinner hatte er bestimmt noch nie), stopft die Nüsse gierig in sich hinein und schon ist er wieder weg! Jetzt will ich es aber wissen; quasi im Sinne der Forschung, und lege einen weiteren Köder aus: ob ihm auch ein Zimtbrötchen schmecken würde? Offensichtlich! Sofort schwingt er sich vom Ast, landet gekonnt auf "seiner" Mauer und rupft das trockene Stück wie ein Hühnchen auseinander; weicht es mit Speichel ein und kaut genüsslich auf der Pampe herum. Breitbeinig und dickbäuchig presst er seine Beute an die Brust, und scheint sehr mit sich zufrieden. Nur ab und zu werde ich mit einem misstrauischen Blick gewürdigt. Aber ich will es ihm gar nicht wegnehmen, ich will doch nur mein Foto!

Jetzt ist es dunkel und ich sitze schon wieder so, wie Gott mich schuf, auf der Terrasse. Immerhin lacht der Affe mich nicht aus, wo er doch selbst nackend im Gebüsch sitzt und sicher darauf wartet, dass ich weitere Leckerbissen serviere. Meine Zigaretten nehme ich vorsichtshalber mit rein. Morgen früh möchte ich meinen Nachbarn nicht mit dem Glimmstängel in der Hand auf der Mauer sitzen sehen; nackt, natürlich.