Tränende Augen

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Tränende Augen
Ein Blinder im Kampf gegen die Armut: Bis 2020 soll in den Entwicklungsländern niemand mehr unnötig erblinden müssen. Doch die Zeit rennt.

Das sehende Leben von Rahim Bin Dahman endete in einem dunklen Zimmer. Bis dahin war er ein gesunder Junge, der mit seiner Familie zurückgezogen in der Provinz Kedah, Malaysia, lebte und mit ausgebreiteten Armen den Flugzeugen am Himmel hinterher rannte. Ein kleiner Junge mit großen Träumen, der unermüdlich Papierflieger bastelte und sich nichts sehnlicher wünschte, als Pilot zu werden – bis er im Alter von 5 Jahren vollständig erblindete. Masern zerstörten sein Augenlicht. Das Virus krümmte die Hornhaut und trübte sie; ein ganzes Jahr dauerte es, bis auch die letzten Farben der Dunkelheit wichen.  Monate lang lag er in seinem Bett, die Eltern zogen die Gardinen vors Fenster, weil das grelle Sonnenlicht  so schmerzte. Als sie merkten, dass er sie kaum noch erkennen konnte,  war es bereits zu spät.
40 Jahre später,  nicht weit von Kedah. Ein junges Mädchen liegt vor seinem Elternhaus im Gras, spielt in der Sonne mit Murmeln. Eine Fliege setzt sich auf ihr Gesicht. Das Mädchen wedelt mit der Hand, verscheucht das störende Insekt. Zu spät. Die Fliege hat bereits ein Bakterium übertragen, an dem das Mädchen später erblinden wird. Würde jetzt ein Arzt in das Dorf kommen, könnte er den Namen für ihr Schicksal nennen: Trachom. Und würde der Arzt dem Mädchen jetzt eine antibiotische Salbe verschreiben, hätte es gute Chancen auf Heilung. Es kommt aber kein Arzt. Nicht in einem Land der Dritten Welt; nicht in eines der schmutzigen Dörfer, wo die Menschen unter der Armutsgrenze leben. Nicht hier. Schon nach einer Woche wird das Mädchen nicht mehr in der Sonne spielen, denn das Licht wird schmerzen und die Augen beginnen zu tränen. Danach wird sich eine akute Bindehautentzündung einstellen, die schon bald chronisch und wenig später zu einer Superinfektion mutiert. Jetzt wird das Auge durch andere Bakterien zusätzlich infiziert, sodass sich kleine Geschwüre und Eiter bilden. Durch die Vernarbung werden die Wimpern nach innen gebogen und so lange auf der Hornhaut scheuern, bis das Mädchen vollständig erblindet ist.

 „You’ve got mail“ ertönt eine blecherne Stimme in der Malaysian Association for the Blind (MAB). Rahim läuft mit schnellen Schritten durch sein spärlich eingerichtetes Büro – ein Schreibtisch mit Computer, ein Aktenschrank, ein Sofa für die Gäste – und greift nach dem iPhone. Sein sprechendes Auge, wie er es liebevoll nennt. Er weiß genau, wo alles liegt, es darf nur niemand etwas bewegen, dann muss er lange suchen. Rahim startet mit einem Klick den Sprachcomputer, der ihm die eingehende Email vorliest. Es gibt Probleme im Netzwerk der MAB, in der er seit 2005 als IT-Manager arbeitet. Eine beachtliche Karriere für einen Blinden; nicht schlecht, wie er selbst sagt, und schon gar nicht selbstverständlich. Denn der Zustand in den ländlichen Gegenden Asiens bringt eine erschreckende Zahl ans Licht: 90% der erblindeten Kinder werden nie eine Ausbildung bekommen. Eines von ihnen wird das junge Mädchen, das gerade die Fliege verscheucht hat. Die Sonderschulen in der Stadt werden für sie unerreichbar sein. Der Transport zu teuer, die Kapazitäten gering, lange Wartelisten an der Tagesordnung. Das Mädchen wird sich später  in das südostasiatische Drittel der weltweit 45 Millionen Blinden einreihen und damit die unverhältnismäßig hohe Zahl noch steigern.

Solche Rechnungen wären für Rahim damals fiktiv gewesen. Real dagegen war die soziale Isolation, die seine Behinderung mit sich brachte. Wie hätte er auch Fußball spielen können oder gar Fahrrad fahren, blind wie er war. Zum Außenseiter abgestempelt, weil er immerzu stolperte und seine Freunde nicht mehr erkannte. Einmal fragte er seine Eltern, was falsch mit ihm sei, und wurde ohne Antwort ins Bett geschickt. Ein Blinder fällt der Familie mehr zur Last, als dass er Hilfe erwarten könnte. Doch damit wollte Rahim sich nicht abfinden. Er drängelte und  fragte immer wieder,  wie er denn zur Schule gehen könne, er wolle doch etwas lernen. Sein sehnlichster Wunsch, Pilot zu werden, war vielleicht naiv, aber half er ihm doch, die Hoffnung nicht aufzugeben. So machte sein Vater sich auf den Weg, um nach einer Lösung für den Sohn zu suchen und fand eine Blindenschule - in Penang. Viel zu weit weg, um einen Siebenjährigen dorthin zu schicken. Rahim verbrachte noch weitere drei Jahre in dem Dorf. Mit 10 durfte er endlich gehen.

Indien, Pakistan, Hongkong, Griechenland, Vietnam, Amerika… Rahim bereiste die halbe Welt. Er sah sie nicht, aber er fühlte sie. Besonders Neuseeland habe es ihm angetan. Die Menschen so freundlich, die Luft so frisch. Sein Ehrgeiz war ungebrochen. Was sei ihm auch anderes übrig geblieben - in der Leistungsgesellschaft. Da nimmt keiner Rücksicht auf dich, ob blind oder nicht. Da musst du einfach immer der Beste sein, als Blinder sowieso. Und wenn du nicht für dein Recht kämpfst, dann hast du schon verloren.

Immer wieder musste er das tun, und seine Gegner waren nicht selten große Konzerne. David gegen Goliath, ein ungleicher Kampf. Einer seiner größten Triumphe war die Gleichstellung bei der Billigfluggesellschaft AirAsia. Noch bis vor einem Jahr verwehrte sie blinden Menschen den Zugang. Sie nahm sie einfach nicht mit. Rahim lacht darüber: Ein blinder Passagier! Dabei hatten wir doch ein Ticket kaufen dürfen! Aber in das Flugzeug steigen? Nein, was solle man denn mit solchen Menschen machen, wenn mal was passierte. Rahim organisierte mithilfe der MAB eine Demonstration. Am Flughafen Kuala Lumpur blockierten sie tagelang die Schalter von AirAsia, um auf sich und diese Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen. Mit Erfolg! AirAsia kapitulierte und bat Rahim, eine Ausbildung für die Flugbegleiter zu entwickeln. Im Gegenzug luden sie ihn zu einem Besuch in den neuen Airbus320 ein. Rahim durfte sich in das Cockpit setzen und war seinem Traum so nahe wie noch nie. Den hatte er in all den Jahren nicht aufgegeben. Mit Hörbüchern studierte er die Technik eines Flugzeugs, lernte die Namen und Gefahren der Wolkenformationen und sogar wie man notlandet. Als er dann im Cockpit saß, das Steuerruder in der Hand, da hat er sich für einen Moment wie ein richtiger Pilot gefühlt. Toll sei das gewesen; und was für ein Erlebnis!  Doch Rahim musste wieder aussteigen. Ein Blinder kann kein Flugzeug fliegen, so einfach ist das.
 „Man tut eben, was man kann. Wir versuchen, die Menschen zu sensibilisieren. Die Sehenden gehen manchmal wie Blinde durchs Leben.“  Er verübelt es ihnen nicht, aber er vermisst die Selbstverständlichkeiten. „Stellen Sie sich mal vor, Sie sitzen im Dunkeln und jemand serviert Ihnen ein seltsam riechendes Essen – da wollen Sie doch wissen, was das ist!“ Und auch für den Hinweis, dass es heiß sein könnte, sei jeder Blinde dankbar. Das Schulungsvideo für AirAsia soll noch in diesem Jahr den Vereinten Nationen vorgestellt werden. Mit bescheidenem Stolz erwähnt er das; in einem Nebensatz.

Mehr als eine Generation liegt zwischen Rahim und dem jungen Mädchen. Jahrzehnte, in denen 45 Millionen Menschen erblindeten. 45 Millionen Schicksale, von denen 80% vermeidbar gewesen wären. Durch eine Impfung gegen Masern zum Beispiel, für 10 Euro. Die Salbe gegen das Trachombakterium, schon nur noch ein paar Cent. Grauer Star – die häufigste Ursache für Blindheit, operabel. Und trotzdem, kaum dass man diesen Absatz gelesen hat, erblindet schon der nächste. In 5 Sekunden wieder einer. Die Gründe für erworbene Blindheit lesen sich bald wie eine Litanei der viel beklagten „Dritten Welt“. Hygieneprobleme, Unterversorgung, Wassermangel - Armutsblindheit fasst es kurz zusammen. Durch die schlechte Gesundheitsvorsorge fressen sich die Infektionen weiter durch das Land und ohrfeigen die vom Leben gestraften.

Wenn es nach Rahim ginge, hätte schon vor Jahren etwas geschehen müssen. Wenn man die wirtschaftliche Entwicklung in Südostasien sieht,  möchte man ihm Recht geben. Hier  berühren die Wolkenkratzer bald den Himmel; da sitzen die reichen Köpfe in der Chefetage, ganz oben, und haben einen erstklassigen Blick über das Land. Wenn die Wolken nicht zu dicht sind, können manche bis zu dem Dorf blicken, wo dem jungen Mädchen bereits die Augen tränen.  Und wenn die Wirtschaftsbosse clever wären, würden sie das schnell ändern wollen. Nicht aus Mitleid, sondern wegen der bedrohlich klingenden Zahl, die von der World Health Organisation (WHO) geschätzt wurde: 50 Billionen Euro. Einen Schaden in dieser Höhe verursachen die Erblindungen jedes Jahr durch verlorene Produktivität. Die Kosten für Rehabilitation oder Ausbildung der Blinden noch nicht eingerechnet. Und aller Hilfsmaßnahmen zum Trotz steigt die Zahl der unnötig blinden Menschen. Waren es 1975 noch 7 Millionen, sind es heute mehr als doppelt so viele. Ja, sagt Rahim, die Überbevölkerung steckt in dieser Zahl, und ja, die Menschen werden immer älter. Doch sind das nicht nur noch weitere Gründe, endlich zu handeln?

Natürlich! Aber nicht so, wie es bisher getan wurde. Die Ursachen müssen bekämpft werden, nicht die Symptome behandelt. Es ist wie bei einer Erkältung: Wer rechtzeitig Vitamin-C nimmt und sich warm einpackt, wird gar nicht erst krank. Und gar nicht erst blind würden eine halbe Million Kinder in den Entwicklungsländern, wenn sie eine billige Vitamin-A-Kapsel bekämen. Eine Veränderung muss her, und zwar schnell. Sonst wird die Zahl der Erblindungen in 10 Jahren auf 76 Millionen ansteigen. Um das zu verhindern, unterstützt Rahim zusammen mit der MAB die Kampagne Vision2020 – das Recht auf Sehen. 1999 wurde diese globale Initiative von der WHO zur Beseitigung vermeidbarer Blindheit gegründet und Rahim ist optimistisch: „Niemand soll mehr unnötig erblinden müssen.“ 

Im Gegensatz zu anderen Organisationen unterscheidet sich die Strategie der Vision2020 in einem wichtigen Punkt: Sie fordert von allen Ländern, das Sehen zu einem Grundrecht der Menschheit anzuerkennen. Dann müssten die Regierungen konsequenter handeln und wären rechtlich dazu verpflichtet, die Erblindungen zu vermeiden. Mehr Augenärzte sollen ausgebildet, mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden. Und um die ländlichen Gebiete zu erreichen, muss die Infrastruktur verbessert werden. Mit diesen Maßnahmen soll das ehrgeizige Ziel erreicht werden, allen Menschen das Recht auf Augenlicht zu garantieren. Doch dieser Weg ist steinig.

So wie der, den das junge Mädchen gerade abläuft. Hunderte Mal schon ist sie ihn gegangen, zum Wasserholen aus dem 5 Kilometer entfernten Fluss. Sie kennt jeden Busch und jede der knochigen Wurzeln, über die sie mühelos hinweg stieg. Jetzt prägt sie sich genau ein, wo die Tücken des Weges liegen. Ihre Sehleistung hat bereits nachgelassen und sie ahnt, dass es nicht besser wird. Einige Freundinnen haben sich von ihr zurück gezogen, denn das mit dem Auge ist ansteckend, das wissen sie alle.

Rahim hält noch immer sein iPhone in der Hand. Er öffnet den Internetbrowser und deutet auf einen Countdown, der dort tickt: Im Oktober 2010 ist Halbzeit. Am „Tag des Sehens“ wird die WHO ihren Report über Erfolg oder Misserfolg der letzten zehn Jahre veröffentlichen. Dann ist vielleicht auch der steinige Weg geteert und vielleicht kommt dann ein Bus in das kleine Dorf, um das blinde Mädchen zur MAB zu bringen. Dann wird Rahim ihr beibringen, wie sie den Computer bedient und wie die Technik ihre Augen ein Leben lang wird ersetzen müssen. Sie wird lernen, ohne fremde Hilfe eine Straße zu überqueren und wie man die Brailleschrift auf den Tasten des Geldautomaten entziffert. Mit ihrem Gehstock wird sie den geriffelten Steinen im Bordstein folgen und ihren eigenen Weg finden müssen.

Rahim kennt das junge Mädchen noch nicht. Aber wenn er von ihr spricht, hat er Tränen in den Augen.

Marthe Rennert

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

hey interessant zu lesen...kannst stolz drauf sein.
wie lange hast dafür gebraucht?
gruß kevin

Marthe hat gesagt…

danke!! gut zu hoeren :)
arbeit: ca. 3 Wochen..
welcher kevin? kevin neu??