im Zuge des Lebens

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im Zuge des Lebens

Man stelle sich das Leben bitte für einen kurzen Moment als Hochgeschwindigkeitszug vor. Halt! Nicht so einen von der Deutschen Bahn! Nee - so ein richtiges Speedteil! 1000 PS, metallic-rot lackiert, mit Xenonscheinwerfern, Ledersitzen, Stahlfelgen...

Ich schweife ab.

Man selbst ist natürlich der stolze Zugführer. Der Job ist ganz schön hart, weil man im 24-Stunden-Dienst arbeitet. 356 Tage im Jahr für locker 6 Jahrzehnte und mehr.

Regelmäßig hält man an, um ein paar Fahrgäste mitzunehmen. Manche steigen an der nächsten Station schon wieder aus - sie haben nur ein paar Minuten im hintersten Abteil gesessen und aus dem Fenster gestarrt. Sie sind unkompliziert und anspruchslos. Sie wollen nur einmal persönlich vom Zugführer begrüßt werden, um sich ein wenig zu unterhalten oder einen Kaffee zu trinken. Man vergisst sie schnell wieder, sobald sie aussteigen.


Manchmal steigt auch ein blinder Passagier zu. Er hat keine Fahrkarte und überhaupt keine Berechtigung, auch nur einen Fuß in den Zug zu setzen. Aber er tut es trotzdem. Er gehört zu der dreisten Sorte, der sich ständig über den Service beschwert; über die Uniform des Zugführers und dass es nicht schnell genug voran geht. Wenn man ihn erwischt und an der nächsten Station raus schmeißt, legt er gerne noch ein paar Steine auf  die Schienen...

Dann gibt es die Kurzzeit-Passagiere. Viele von ihnen bleiben mehrere Tage, Wochen oder Monate und besuchen einen im Führerhäuschen. Sie bringen Blumen und erzählen aus ihrem Leben. Sie sind alle sehr liebenswürdig und sympathisch; es macht Spaß, mit ihnen zu fahren und sie auf den Kurzstrecken kennen zu lernen. Aber viel zu oft müssen sie wieder los. Manchmal muss man eine richtige Vollbremsung hinlegen, damit sie ihr Ziel nicht verpassen. Die meisten lassen in der Hektik etwas im Abteil liegen, das man als vorbildlicher Zugführer an sich nimmt und so lange verwahrt, bis sie es eines Tages wieder abholen.

Und dann sind da die Langzeit-Fahrgäste, die schon seit Jahren in der zweiten Klasse sitzen und einfach nicht gehen wollen. Das freut einen natürlich, denn diese Leute sind alle gute Handwerker. Sie kümmern sich um die Tür zum Führerhäuschen, die gerne mal klemmt oder ölen die Räder, wenn der Zug nach einem langen Winter nicht mehr so schnell voran kommt. Oft setzen sie sich auch zum Zugführer und bleiben, um ihm Gesellschaft zu leisten.

Des Zugführers liebste Reisebegleiter sind jedoch die mit der Dauerkarte. Sie bleiben oft Jahrzehnte lang in der ersten Klasse und sind schon an den Ledersitzen festgewachsen. Aber sie reißen sich los, wenn der Zugführer müde ist und eine Pause braucht. Dann übernehmen sie das Ruder und man kann für ein paar Tage im Schlafwaggon ausruhen. Wenn man den Job am liebsten hinschmeißen möchte, ermuntern sie einen zur Weiterfahrt; schließlich warten noch andere Leute am nächsten Bahnsteig. Diese Dauerkartenbesitzer sind privilegiert. Nach einer gewissen Zeit kann der Zugführer sie nämlich in die Geheimnisse des Zuges einweihen. Wo die Tücken liegen und wie man den Schalthebel bedient. Worauf sie bei Nachtfahrten achten sollen und was sie im Falle eines Unfalls tun müssen oder wenn man die Geschwindigkeit überschreitet. Solche Dinge sind streng geheim zu behandeln, denn der Zugführer hat darauf schließlich ein Patentrecht!

Als Entschädigung für dieses Vertrauen haben sie oft gute Ratschläge parat, programmieren den Autopilot oder schlagen eine alternative Route vor, wo die Schienen besser sind. Und nicht selten tragen sie zu wunderbaren Parties bei. Sie trösten, lachen, tanzen, schreien und toben. Sie beanspruchen die Aufmerksamkeit des Zugführers und bekommen oft eine Treuebonus-Karte, die ihre Daseinsberechtigung ausweist. Und obwohl man diese Passagiere furchtbar gern hat und sie eine bereichernde Gesellschaft abgeben, müssen auch sie früher oder später den Zug verlassen. Aber sie schicken regelmäßig Karten oder kommen Jahre später nochmal wieder, um Hallo zu sagen.



Selten bleibt einer für immer. Der schließt dann einen Vertrag mit der Bahngesellschaft und legt die Beine hoch. In den Ledersitzen erster Klasse mit Rundum-Service und persönlicher Betreuung durch den Zugführer.

So ist das Leben im Zug. Es herrscht reger Betrieb in den Abteilen; man muss ständig die Karten kontrollieren, die Geschwindigkeit anpassen und das Führerhäuschen sauber halten. Anhalten, Fahrgäste mitnehmen, anhalten, Fahrgäste rauslassen. Es gibt keinen Leerlauf und keinen Stopp für den TÜV.  Es ist überwältigend. Es ist lustig, spannend, heikel, enttäuschend, einfach, glücklich, manchmal traurig, selten tragisch und oft eine echte Herausforderung. Kein Tag gleicht dem anderen; es gibt immer was zu tun und ständig klopft ein Passagier an die Tür.

Vor ein paar Tagen hielt ich in Kambodscha. Ein junger Mann aus Chile stieg zu. Er war ein bemerkenswerter Beifahrer, der die komplizierte Technik meines Zuges erstaunlich gut verstanden und meine Fahrt durchs Leben mit guter Unterhaltung und gemeinsamen Erlebnissen bereichert hat.

Leider hatte er nur ein Kurzstreckenticket gekauft und musste heute schon wieder umsteigen, in einen Bus nach Vietnam.

Ich steuere meinen Zug jetzt Richtung Thailand. Ein bisschen traurig bin ich, dass mein Begleiter weg ist - aber wenn ich die Augen zusammen kneife und gegen die Sonne blinzele, kann ich am Horizont schon die nächste Haltestelle sehen.

Hoffnung für Kambodscha

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Hoffnung für Kambodscha

Kindersoldat, Cyclo-Fahrer, Lehrer. Heng Chum versucht, in seinem von Krieg und Armut verfolgten Land eine Zukunft zu gestalten. Nicht für sich, sondern für die verwaisten und obdachlosen Kinder Kambodschas.

Heng Chum sitzt vor seiner Hütte in der kambodschanischen Provinz Takeo und schraubt die linke Wade fest. Er seufzt dabei. Die Prothese hat er, seit er mit 16 Jahren auf eine Mine stieg. Sie sitzt schlecht. „No good quality“, sagt er, aber Geld für eine Neue hat er nicht.

Heng Chum in seiner Schule
$15 im Monat verdient Heng Chum durch die Arbeit auf den Reisfeldern, und gibt sie größtenteils für seine 30 Schüler aus. Für Papier, Stifte und Kreide. Seine Frau beschwert sich deswegen, aber Chum, wie ihn alle nennen, hört dann einfach weg.

Jeden Tag geht er zu den Reisfeldern, von 2 bis 5 Uhr morgens. Dann legt er sich nochmal schlafen, auf den nackten Betonboden in seiner Hütte, die gleichzeitig Klassenzimmer, Wohnzimmer und Küche ist. Manchmal müssen seine Schüler ihn aufwecken, wenn sie zum Unterricht kommen.

Chum ist 40 Jahre alt und gehört damit zu den wenigen älteren Menschen in Kambodscha, die das Regime unter Pol Pot überlebt haben. Als die Roten Khmer am 17. April 1975 die Macht übernahmen, ermordeten sie rund zwei Millionen Kambodschaner. Die kommunistische Idee Pol Pots war einfach: Wer eine Brille trug oder eine Fremdsprache beherrschte, wurde als Parasit bezeichnet und systematisch zu Tode gefoltert. Heute ist fast die Hälfte der Einwohner unter 18 Jahre alt.

Wenn Chum den Namen Pol Pot hört, senkt er den Blick und legt die Stirn in Falten. Er erinnert sich genau an den Tag, als die Roten Khmer in sein Dorf kamen. Vor seinen Augen wurde der Vater ermordet; mit einem Messer schlitzten sie ihm die Kehle auf und transportierten den sterbenden Körper auf einem Laster ab.

Chums Familie gehörte nicht zu den Intellektuellen, aber die Roten Khmer suchten selten einen Grund für ihre Morde.

1984 rückten die Vietnamesen ins Land und die Roten Khmer begannen, Soldaten für die Verteidigung zu rekrutieren. Darunter war auch der 14jährige Chum, der bald an der thailändischen Grenze für die Mörder seines Vaters kämpfte. „Ich hatte keine Ahnung, warum ich diese Waffen benutzte. Warum mein Vater ermordet wurde, habe ich nie verstanden. Ich wusste ja nicht einmal, dass überhaupt Krieg herrscht.“

Chum wusste nie besonders viel. Durch den Bürgerkrieg in seinem Land bekam er keine Chance, eine Schule zu besuchen. Aber er beschwerte sich nicht. Er drückte nur immer wieder den Abzug seiner Waffe, sobald ein Vietnamese in sein Blickfeld geriet. Zwei Jahre lang kämpfte Chum, und er war ein guter Soldat.
Die Schule in Takeo, Kambodscha

Bis er auf die Mine trat. „Es war eine von den chinesischen Fröschen“, erinnert er sich. So genannt wegen ihres knackenden Geräuschs, kurz bevor sie detonieren. Sein halbes Bein riss sie ihm weg.

Jeden Tag zeigt er seinen Schülern das halbe Bein aus Hartplastik. „Um sie vor den Landminen zu warnen, die hier überall rumliegen.“ Anschaulichen Unterricht nennt er das dann und grinst schief. Nur seine Augen lachen nicht.

Um 11 Uhr beginnt der Unterricht. Heng Chum verteilt Hefte und Stifte, bei jedem Schritt quietscht sein Bein. Auf kleinen Holzbänken drängeln sich die Kinder aneinander und lauschen eifrig Chums stockendem Englisch. Über den Köpfen der Schüler hängen Zettel mit willkürlich ausgewählten Vokabeln. practise und sunrise steht dort. basket oder chicken, und auf einem I don’t have parents.

Die Schüler auf den Holzbänken sind Waisen. Wie 100.000 andere Kinder haben sie ihre Eltern durch AIDS oder Minen verloren. Manche wurden verlassen oder ausgesetzt. Die Armut treibt die Menschen zu solchen Taten, glaubt Chum. Und die Armut in Kambodscha ist zermürbend.

Heng Chum mit zwei seiner Schüler
Die Kambodschaner wollen vergessen, denn zu viel Leid mussten sie ertragen. Kaum eine Familie heute hat nicht wenigstens einen Vater, einen Sohn oder eine Tante verloren. Jeder von ihnen kämpft ums Überleben. Ein Drittel der Bevölkerung lebt von der Feldarbeit, in ärmlichen Hütten auf dem Land mit ein paar Hühnern und Kühen, aber ohne Aussicht auf ein zivilisiertes Leben.

Auch Chum ist gut im Vergessen. Seine einzige Wahl, wenn er nicht jede Nacht von den Dämonen in seinem Kopf heimgesucht werden will. Er verdrängt die Vergangenheit erfolgreich. Wenn da nur das Bein nicht wäre.
Drei Jahre lang nach dem Unfall verkroch er sich zu Hause bei seiner Mutter. Beschämt über seine Behinderung, unfähig zu gehen und von Depressionen verfolgt. Er sah weder Zukunft noch Hoffnung in dem zerstörten Land; denn da waren die Grenzen zu Thailand und damit der einzige Ausweg bereits geschlossen.

Irgendwann zu dieser Zeit muss es passiert sein, da kam ein Bekannter aus der Stadt zu Besuch und brachte Lebensmittel. Eier und Brot; richtiges Brot, erinnert sich Chum. Und ein Buch. Aus dem Ausland. Chum wusste weder, dass es sich bei dem Buch um ein englisches handelte, noch wie er die seltsamen Wörter entziffern sollte.

An einem verregneten Morgen im Oktober, als Chum 20 Jahre alt wurde, fuhr er per Anhalter nach Phnom Penh; das Buch unter den Arm geklemmt, auf einem Bein hüpfend. „Ein paar Tage schlief ich auf der Straße“, sagt er und es klingt ein bisschen stolz als er davon erzählt, wie er zu seinem ersten Job kam. „Ein alter Cyclo-Fahrer hat mir sein Fahrrad geliehen, wenn er schlafen ging.“

Chum fuhr dann Einheimische nach Hause, jede Nacht, mit seinem einen funktionierenden Bein. Am Tag legte er sich in einen Tempel zum Ausruhen; den Kopf auf das Buch gebettet.

Irgendwie sei es so gewesen, dass dieses Buch ihm eine neue Aufgabe gab im Leben; ein wenig Zuversicht im Elend. Und dann, in einer schwülen Nacht, als er seinen letzten Fahrgast nach Hause strampelte, kam ihm die Idee.

Eine Schule sollte es sein. Wo Kinder Englisch lernen könnten und dann vielleicht eine Zukunft hätten. Für sich selbst sah Chum schon keine Hoffnung mehr; verkrüppelt und ohne Ausbildung, zu alt.

Das Land war mittlerweile unter die Aufsicht der UNO gestellt und Frieden kehrte ein. Nur brachte der Frieden keine Arbeit mit sich. Das Land versank in einer Depression und erholt sich noch heute von den Folgen.

ein Waisenjunge auf dem Weg zur Schule
Und Chum lernte. Er las in dem Buch, das er nicht verstand, bis eines Tages ein kleiner Buchladen öffnete. Von seinen paar Riel, die er in den Monaten als Cyclo-Fahrer angespart hatte, kaufte er sich ein Wörterbuch: Khmer - Englisch. Müde saß er im Tempel, Tag für Tag und studierte die Wörter. Als die ersten Touristen in Kambodscha einkehrten, sprach er mit ihnen und probierte seine neuen Fähigkeiten aus.

Seit 10 Jahren kommen die mageren, verwaisten Kinder zu Chum. Geld können sie ihm für seinen Dienst als Lehrer nicht geben. „Dass ich ihnen ein bisschen was mit auf den Weg geben kann, ist mir Bezahlung genug“, sagt er. Viel mehr erwarte er auch nicht. Und dass die Regierung sich gegen jede finanzielle Unterstützung weigert, sei noch ein Grund mehr, selbst etwas zu tun. „Wie soll denn die Zukunft der Kinder sonst aussehen?!“

Arbeiter in einer chinesischen Textilfabrik, Cyclo-Fahrer, mit etwas Glück ein Job in der Tourismusbranche, ansonsten Bettler. So sehe es aus, schimpft Chum und schreibt eine letzte Vokabel auf das Blatt. Work.

Als es dämmert, schickt Chum seine Schüler nach Hause. Oder zurück in den Tempel. Die meisten drücken sich noch eine Weile am Hoftor herum; sie wollen nicht gehen.

Chum lässt sich erschöpft auf eine der Holzbänke fallen und schraubt die Wade ab. Er seufzt, erleichtert, das sperrige Ding los zu sein. Dann legt er sich schlafen. Ein paar Stunden hat er jetzt, bevor er wieder zur Arbeit auf den Reisfeldern muss.

Die Schüler und ich; bei meinem Besuch in Takeo


Marthe Rennert






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Warum das Herz in die Hose rutscht

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Warum das Herz in die Hose rutscht

alles, was ich finden konnte!
Alles ist schwer. Ich bin schwer beeindruckt von den Menschen in diesem Land. Die Taschen mit den Büchern und Heften, die ich trage, sind schwer. Mein Herz, als ich die zwei Brüder sehe, die jede Nacht in einem Tempel schlafen. Das Gefühl ist schwer zu ertragen, dass sich niemand um sie kümmert. Und es ist schwer zu glauben, dass diese beiden Jungs oder auch die restlichen Kinder jemals eine Chance auf ein faires Leben haben werden. 

Ich befinde mich mitten in der kambodschanischen Provinz Takeo, in einem Dorf weit entfernt von asphaltierten Straßen und Elektrizität. Vom „Bahnhof“ aus heuere ich einen Rollerfahrer an und nenne ihm die „Adresse“, die vage Auskunft über die Straße gibt, wo die „Schule“ liegen soll. Dreimal Anführungszeichen in einem Satz? Ganz einfach deswegen, weil diese Worte nicht ansatzweise mit einem Bahnhof oder einer Schule in Deutschland zu vergleichen sind.

20 Minuten holpern wir über die von Schlaglöchern übersäte Straße; vorbei an kilometerweiten Reisterrassen. Auf jedem Feld heben die Menschen die Köpfe, sehen mir erstaunt hinterher und winken. Ich fühle mich bald wie die Queen bei dem ganzen Gewinke, das ich natürlich erwidere während mein Grinsen immer breiter wird. Diese Leute freuen sich ehrlich und aufrichtig, mich zu sehen - und ich mich erst!



Wir biegen auf einen kleinen Hof. Die Schule ist ein bunt bemalter Betonbau mit Strohdach. Es gibt eine Tafel und ein paar Bänke. Ein Hund springt mich schwanzwedelnd an und besudelt mich mit Dreck. Aber außer dem Hund, ein paar gerupften Hühnchen, einer Entenfamilie und ein paar weißen, abgemagerten Kühen ist niemand hier. Ich rufe die ganze Zeit hellohello, und will den Rollerfahrer um Hilfe bitten, aber der ist schon in einer Staubwolke verschwunden. Er  ahnt wohl nicht, dass ich als Ausländerin hier völlig hilflos und aufgeschmissen bin. 

Also mache ich mich alleine auf die Suche. Ich frage an ein paar Nachbarhöfen, ob jemand wüsste, wo der Lehrer Heng Chum ist, der hier unterrichtet. Aber ich werde meist nur mit großen Augen angestarrt und bekomme eine Antwort auf Khmer. Irgendwann treffe ich einen kleinen Jungen, der mit seinem klapprigen Fahrrad neben mir hält und mich auf Englisch fragt (endlich!), ob er mir helfen könne. Nachdem ich ihm erklärt habe, was ich eigentlich will, lädt er mich ein, auf seinen Gepäckträger zu springen und fährt mich schmerzhafte 5 Minuten  zu einem Reisfeld, wo ich endlich Heng Chum treffe! Er entschuldigt sich, dass er nicht da war, aber er hatte ja auch keine Ahnung, wann ich komme. Handys existieren hier nicht.
Heng Chum vor seiner "Schule"

Am Abend liege ich mit Heng Chum, seiner Frau und seinem dreijährigen Sohn in Hängematten. Es ist stockdunkel; die Batterie für die einzige Lampe hier muss noch bis Ende des Monats reichen und wird nur im Notfall gebraucht. Wir essen Reis mit Hühnchen, das ich nur schwer runterwürgen kann, weil das Ding vorhin noch um meine Beine gehüpft ist.

Ursprünglich war mein Plan, die 50 Schul- und Schreibhefte dort abzuliefern, freundlich Hallo zu sagen und wieder zurück in mein weiches Bett in Phnom Penh zu schlüpfen. Jetzt liege ich auf dem Boden der Schule ohne Kissen oder Decke und rolle mich die ganze Nacht von Schmerzen geplagt hin und her. (Wer einmal versucht hat, auf einem Betonboden zu schlafen, weiß wovon ich rede!) Matratzen gibt es hier jedenfalls auch nicht.

Es ist heiß und die Frösche auf den Reisfeldern veranstalten ein unerhörtes Konzert, das jeglichen Gedanken an Schlaf vernichtet. Ich stinke schon jetzt wie ein alter Käse. Schweiß, Staub und Hundespucke kleben an mir wie die Fliegen im Netz der Spinne.

Eine Dusche gibt es hier selbstverständlich ebenso wenig wie Zahnpasta oder Seife.

Aber all diese Unannehmlichkeiten für einen verwöhnten Europäer wie mich sind am nächsten Morgen wie weggeblasen, als um 9 Uhr die ersten Kinder angetrottet kommen und mich lärmend aufwecken. Ich fühle mich ein bisschen wie der Affe im Zoo, als sie mit dem Finger kichernd auf mich zeigen. Vermutlich sehe ich in ihren Augen aus wie ein riesiger rosa Pelikan, der da auf einmal in ihr Dorf spaziert kommt. 

Sie freuen sich maßlos über die Hefte und kritzeln sofort ihre Namen in unförmigen Buchstaben auf die erste Seite. Wir spielen „Galgenraten“, was angesichts der Vergangenheit dieses Landes vielleicht etwas unpassend ist. Also „ich packe meinen Koffer“, was in einem Chaos endet, weil alle gleichzeitig etwas einpacken wollen.

Zwischen den fröhlichen und ausgelassenen Kindern bemerke ich zwei stille und offensichtlich eingeschüchterte Jungs. Der jüngere von ihnen trägt eine Augenklappe.

Ich frage Heng Chum, was mit den beiden los ist und bekomme eine nüchterne Antwort. Die Eltern sind tot. Die Geschwister schlafen Nacht für  Nacht in einem Tempel  und laufen jeden Morgen die 5 Kilometer zur Schule. Der 8jährige Junge hat sein Auge durch eine Infektion verloren und in seinem Leben noch kein Krankhaus von innen gesehen. Manchmal bekommen die beiden etwas von den Mönchen zu essen; manchmal in der Schule, wenn etwas übrig bleibt. Ansonsten können sie nicht auf die Hilfe von Erwachsenen geschweige denn der Regierung hoffen. Damit gehören sie zu den Tausend anderen Kindern in Kambodscha, die ihr Leben als Bettler beginnen und es aller Voraussicht nach ewig bleiben werden.

Ich hebe vorsichtig die Augenklappe.

Mir rutscht das Herz in die Hose.

am liebsten hätte ich die beiden eingepackt und mitgenommen
Ich schnappe mir den Kleinen und fahre in das nächste Krankenhaus. Dort wird der Rest des infizierten Auges gesäubert. Der Junge hat furchtbare Angst und weiß überhaupt nicht, was mit ihm geschieht. Ich will ihm die Hand halten, aber er ist so menschenscheu, dass er sich auf der Liege einrollt und die Prozedur widerwillig über sich ergehen lässt. Er braucht Augentropfen, erklärt mir der Arzt. Ich kaufe ihm die Tropfen für einen Dollar und wir fahren zurück zur Schule.

Ich verbringe noch einen herrlichen Nachmittag mit den Kindern. Wir spielen Volleyball, jagen uns über den Hof und wälzen uns mit dem Hund im Dreck. Es ist herrlich.

Aber ich muss wieder zurück. Zurück in mein privilegiertes Leben mit 3 Mahlzeiten am Tag, einem Dach über dem Kopf, einem teuren Studium und meiner Möglichkeit, zu reisen.

Eines beschließe ich, als ich in den Bus nach Phnom Penh steige: Wenn ich mich das nächste Mal über die lange Warteschlange an der Kasse ärgere; wenn ich über das Regenwetter jammere oder mich über die hohen Benzinpreise beschwere…

dann denke ich erst mal an diese Kinder. 

Staatsfein Nr. 1

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Staatsfeind Nr. 1

Ich bin froh, nicht mehr in Vietnam zu sein. Meine Reise dort stand unter keinem guten Stern. Vielleicht war es auch ein bisschen meine Schuld, dass ich ausgeraubt wurde - die Tasche mit den dünnen Trägern hing aber auch zu verführerisch über meine Schulter. Ich sehe ihn schon im Augenwinkel schräg hinter mir her laufen und wundere mich noch, warum er so nahe kommt - die Straße ist wirklich breit genug! Und während ich so fahrig darüber nachdenke, reißt er mir die Tasche auch schon ab und rennt los. Im selben Moment fliegen meine Flipflops durch die Luft, als ich einen Sprint hinlege und die Verfolgung aufnehme. Der arme Junge ist nicht besonders schnell mit seinen kurzen Beinen und wäre da nicht sein Kollege, der ihn mit dem Roller abholt, hätte ich ihn erwischt. Ich kann gerade noch sein T-Shirt greifen, als er auch schon aufspringt und mich damit zu Boden reißt. Ich schlittere bäuchlings einen guten Meter über den nassen Asphalt und fluche ihm wild hinterher, während die beiden schon um die nächste Ecke biegen. Das Resultat dieses 5-sekündigen Actionfilms ist ein Loch in meiner Hose, ein aufgeschürftes Knie, ein abgebrochener Fingernagel und 2 Tage wilde Szenarien in meinem Kopf, wie ich ihn vom Roller reiße und mein Tränengas ins Gesicht drücke…. 

Aber ich will nicht nachtragend sein und Hass ist nicht gut für den Blutdruck. Ich wandele meine bösartigen Gedanken ins Positive und sehe das Ganze wie eine Spende. Die Menschen hier verdienen monatlich vielleicht 40-50 Euro. Wie kann man es ihnen da verübeln, einer deutschen Touristin mal etwas abzunehmen? Dass er mir damit eine Menge Stress bereitet, hat er wohl nicht geahnt, als ich am nächsten Morgen in der Polizeiwache stehe und Anzeige erstatten will. Nicht, dass das etwas bringen würde (vermutlich bekäme der Dieb noch einen ordentlichen Applaus von den Beamten), aber die deutsche Bürokratie verlangt für Schadensersatz so etwas wie ein Aktenzeichen… ein Aktenzeichen, so so. Ich ahne schon, dass so etwas nicht existiert, als ich die gähnend leeren Regale in der Polizeistation sehe. Von einem Computer ganz zu schweigen. Ein paar uniformierte Vietnamesen lümmeln sich auf Stühlen und dem Boden, gucken fern, lesen Zeitung und - schläft da tatsächlich jemand auf dem Tisch??

Ich verkneife mir ein Grinsen und räuspere mich einmal kräftig; werde zur Antwort aber nur mit einem schiefen Blick bedacht und dann ignorieren sich mich auch schon wieder. Aha, so ist das also, ihr Blödmänner, denke ich und halte meine aufkeimende Wut in Schach. „Hallo, ich würd hier gern mal einen Report machen, junger Mann!“ Da steht tatsächlich einer auf und überschwemmt mich mit einer Salve aus vietnamesischen Lauten (ich verstehe kein Wort, schlußfolgere jedoch, dass er mich nicht besonders leiden kann…) Ich starre fasziniert auf das lange Haar, das ihm aus der Nase sprießt. Und während ich noch starre, dreht er mir den Rücken zu und lässt mich stehen. Eiskalt. Ich vermute mal, er spricht kein Englisch. Tja, was macht man nun, ohne Dolmetscher oder sonst wen, der irgendwie helfen könnte? In meinem Guesthouse zucken sie auch nur mit den Schultern.

Am nächsten Tag versuche ich es nochmal. Andere Beamte, das gleiche Spiel. Keine Chance auf Hilfe.

Am dritten Tag marschiere ich selbstbewusst mit einem jungen englischen Lehrer, den ich im Hotel kennen gelernt habe und der ein bisschen vietnamesisch spricht, erneut in die Wache. Daniel erklärt einem mäßig interessierten Beamten die Lage. Und dann fragt der Polizist empört, warum ich denn nicht schon früher gekommen sei - da könne er jetzt auch nichts mehr machen…

Am vierten Tag habe ich schon fast aufgegeben und will abreisen, aber mein Sturkopf lässt mich nicht. Mit einem Zettel, auf dem ich auf vietnamesisch (!!) um Hilfe bitte, klopfe ich ein weiteres Mal an die Tür zur Staatsgewalt. Man liest ihn sich sogar durch! Ja, nur hat hier keiner Lust zu arbeiten. Ich solle den Zettel erst mal von meinem Hotel abstempeln lassen! Wie bitte? Welchen Sinn macht denn sowas?! Jetzt werde ich furchtbar ungehalten und böse über diese ganze Verarsche und halte dem Beamten einen 5-Dollar-Schein unter die Nase. Ob er mir denn dafür bitteschön eine Anzeige schreiben würde?! Und auf einmal winkt er mich herein, lässt mich auf einem Stuhl Platz nehmen und legt mir einen Zettel vor. Ich schreibe meine Geschichte in herzzerreißendem Englisch nieder und zeige ihm vorsichtshalber noch meine Fleischwunde am Knie  - mit Tränen in den Augen. Das zieht. Eine Minute später stehe ich wieder vor der Polizeiwache; aber diesmal mit einer abgestempelten Anzeige in der Hand. 

Er hat sich meinen Bericht nicht mal durch gelesen…

endlich, das ersehnte Dokument!

Vietnam

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the village II

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Wenn die Sonne nicht mehr aufgeht

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Wenn die Sonne nicht mehr aufgeht

Ein Anschlag der Taliban auf Kabul raubte Nafiseh die Kindheit. Nach Jahren der Flucht lebt sie seit 2 Jahren in Malaysia. Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben lässt auf sich warten – das Land hat noch immer nicht die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben.

Ein Sonnenaufgang sollte es werden. Die 13jährige Nafiseh malte gerade das Meer blau aus, als sie das Unheil durch ihr Zimmerfenster kommen sah. Am Himmel zogen graue Wolken auf, die in weiter Ferne dunkle Schatten Richtung Kabul trieben. Mit dem ersten Donnergrollen fielen die Taliban in die Stadt ein; ein Blitzschlag war wie das Zeichen zum Schießen und die Menschen stoben auseinander, um dem plötzlichen Kugelhagel zu entfliehen. Mit irrem Blick jagten die Schützen durch die Straßen und feuerten auf alles, was sich bewegte. Schreie hallten durch die Gassen und drangen bis in die Keller, wo sich Familien aneinander gekauert vor dem Tod versteckten. Nur Nafiseh tat das Gegenteil. Statt sich in Sicherheit zu bringen, rannte sie aus dem Zimmer auf die Straße, hinein in die zischenden Geschosse. Als dann das Blut auf sie spritzte, blieben ihr nur ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass es das ihrer eigenen Mutter war. Ein Nachbar zog sie geistesgegenwärtig in einen Hauseingang.
Als die Taliban abzogen, hinterließen sie einen Ort der Verwüstung. Die plötzliche Stille wurde nur von den Klagerufen der Verletzten gebrochen, über die sich ein sanfter Nieselregen legte. Nafiseh konnte ihre Mutter kaum von den Sterbenden unterscheiden. Nur knapp überlebte sie diesen Angriff. Und gleichzeitig war er das Ereignis, das etwas in Nafiseh sterben ließ. Ihre Kindheit rann durch ihre Hände wie das Blut der Mutter und wurde von der dreckigen Straße aufgesaugt.
als Flüchtling anerkannt

Ein Flüchtling ist eine Person, die «aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.»  (Auszug aus der Genfer Flüchtlingskonvention).

Am 28. Juli 1951 wurden diese Worte auf der UN-Sonderkonferenz in Genf formuliert. Sie stehen noch heute für Millionen Menschen, die alles verloren haben. Die ein Leben im seelischen Ghetto fristen, wo es  dunkel, trist und freudlos ist. Mit jedem weiteren Tag werden die kleinen Hoffnungsschimmer, die manche wagen, mit Füßen getreten. Als Flüchtling gehört man nirgendwo hin. Nafiseh und ihre Familie sind nur Teil einer beispiellosen Statistik, die vom UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees)  geführt wird. 50 Millionen Flüchtlinge weltweit; davon 3 Millionen in Malaysia, von denen wiederum 1 Million illegal eingewandert sind. Wie viele Menschen auf der Flucht gestorben sind, kann nicht erfasst werden. Und auch die Familien, die auseinander gerissen wurden, sind nie gezählt worden. Für so etwas bleibt keine Zeit, denn täglich kommen rund 2000 Flüchtlinge zum UNHCR in Kuala Lumpur, um Hilfe zu suchen. Doch die meisten werden ernüchtert und ohne Hoffnung wieder in die armseligen Wohnblocks am Rande der Stadt zurück kehren. Dorthin, wo es keine Bürgersteige gibt; wo die schmutzigen Hochhäuser wie Grabsteine aus dem Boden ragen; wo sie den Menschen, denen es besser geht, nicht die scheinbar heile Welt verderben. In einem dieser Elendsviertel lebt Nafiseh heute mit ihrer Familie. Drei ältere Brüder, Mutter, Vater, eine Tante und eine Bekannte mit einem Säugling teilen sich die 50 Quadratmeter große Wohnung. Nafiseh ist erst 17 Jahre alt, doch seit dem Angriff damals in Kabul ist alles Kindliche aus ihrem Wesen verschwunden. Ihre Mimik ist ernst, die Stimme ruhig und dunkel. Sie erzählt von ihrem Leben wie eine Nachrichtensprecherin – deutlich, emotionslos, ohne Schnörkel.
die Aussichten im Flüchtlingsviertel sind düster
Zwei Jahre lang lebte sie auf der Flucht durch Iran und Pakistan, immer auf der Suche nach einer neuen Heimat, nach ein bisschen Schutz und Sicherheit. Doch auch in Pakistan waren die Taliban allgegenwärtig und in Iran akzeptierte man sie nicht. Vor drei Jahren kamen sie nach Malaysia, als Touristen. 30 Tage blieben ihnen – im Eilverfahren erteilte ihnen der UNHCR den Flüchtlingsstatus. Nafiseh und ihre Familie erhielten Identitätskarten, die sie seitdem immer bei sich tragen. Offiziell stehen sie damit unter dem Schutz des UNHCR; sind als Flüchtlinge anerkannt.
Als Flüchtling anerkannt. Was erst einmal so klingt, als könne man kurz aufatmen; ist beim zweiten Blick ein Zeugnis des Elends. Schulbesuch, Freizeit oder Sportverein – solche Wörter sind den Flüchtlingen fremd. Stattdessen gibt es in Malaysia mehrere Selbsthilfegruppen. Zwischen Kunsthandwerk, Koch- oder Schneiderkursen soll ein Hauch von normalem Leben stattfinden. Ein schwacher Trost, aber ein Zipfel Alltag, an den sich die Flüchtlinge klammern wie ein Äffchen an die Mutter. Denn ihre Situation ist alles andere als hoffnungsvoll - noch immer fehlt jegliche Rechtsgrundlage.
Nafisehs Eltern im Wohnzimmer
Flüchtlinge in Abschiebungshaft
Eine ansatzweise Regelung zum Umgang mit Flüchtlingen existiert bisher nur im Malaysian Immigration Act (MIA). Der wurde 1963 verfasst und ist bis heute gültig. Hier sind die empfindlichen Strafen aufgeführt, die den bösen Eindringlingen verhängt werden sollen; oder auch die Regeln zur Abschiebehaft. Dass dabei jegliche Menschenrechte ignoriert werden, ist nur ein bitterer Beigeschmack des ganzen Übels. Vierzig Menschen auf engstem Raum - keine Seltenheit hinter den Gittern der Flüchtlingslager. Männer von ihren Ehefrauen trennen - bald schon ein Volkssport bei den Grenzbeamten. Strafen, Paragrafen, Anweisungen. Alles da, was das Beamtenherz begehrt; nur eines lässt diese Regelung schmerzlich vermissen: eine Definition, wer illegaler Einwanderer ist und wer tatsächlich Flüchtling. Kurzum: jeder, der ohne Aufenthaltsgenehmigung angetroffen wird, wird verhaftet. Da nützt es auch nichts, dass Malaysia Mitglied des UN-Rates für Menschenrechte ist, wenn das Land nicht nach diesen Grundsätzen handelt. Da klingt es wie Hohn, wenn man erfährt, dass Malaysia die UN-Menschenrechtserklärung und sogar die UN-Erklärung zu Asylsuchenden unterzeichnet hat. Papier ist eben geduldig. Und so ist der Willkür der Grenzbeamten keine Grenze gesetzt. 

Begrenzt dagegen sind die finanziellen Mittel der Flüchtlinge. Wie Nafisehs Familie müssen sie tagtäglich um ihren Lebensunterhalt kämpfen. Es gibt keine Sozialhilfe und keine Möglichkeit, legal an Geld zu kommen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Arbeiten mit den makabren 3 D’s anzunehmen:  dirty, dangerous, difficult. Und unlängst durch demeaning ergänzt – erniedrigend. 
Auch Nafiseh würde gern arbeiten; ein bisschen Geld verdienen, um der Mutter die Sorgen zu nehmen. Aber Nafiseh hat Depressionen. Schlimme Alpträume verfolgen sie, in denen sie immer wieder in die Vergangenheit reist. Zurück nach Afghanistan. Zurück zu der Straße, in der sie einmal wohnte. Von ihrem Zimmerfenster beobachtet sie das Massaker auf dem nahe gelegenen Feld, wo die Taliban einige Frauen und Kinder zusammen treiben. Sie werden in eine Grube gestoßen und erschossen.

Jede Woche, immer montags, fährt Nafiseh zu dem weißen Gebäude nahe der Petronas Towers im Zentrum. Dort wartet sie dann mehrere Stunden vor dem Büro ihrer Sachbearbeiterin, die später einen Vermerk in die Akte schreiben wird: 17jährige Tochter der afghanischen Flüchtlingsfamilie fragt nach Aufnahme in ein Drittland (Kanada). Abgelehnt.
Wenn Nafiseh dann zu ihrer Mutter zurück kehrt, überbringt sie die sich allwöchentlich wiederholende Nachricht: Kanada nehme dieses Jahr keine Flüchtlinge mehr auf; auch Dänemark nicht oder Deutschland. Der Frieden in Afghanistan sei so weit wieder hergestellt, dass die Familie nach Kabul zurück kehren könne.
eines von Nafisehs Portraits
Dass Nafiseh und ihre Familie weder zurück können noch wollen, spielt bei der Sachbearbeitung keine Rolle. Es geht nicht um Gefühle oder Sehnsüchte. Es geht auch nicht um die Tatsache, dass Kabul noch immer ein einziges Schlachtfeld ist, in das zurück zu kehren reinster Selbstmord wäre. Zumindest für Nafiseh und ihre Familie. Denn der Vater, damals Anhänger der Demokraten in Afghanistan, würde augenblicklich erschossen werden, sobald er einen Fuß in sein Heimatland setzte. Er ist ein intelligenter Mann, studierter Ingenieur und ein kritischer Denker. Ein gefährlicher Gegner für die Taliban. Sie zwangen ihn, für sie zu arbeiten und als er sich weigerte, entkam er nur knapp den Schüssen, die sie wutentbrannt und geisteskrank auf ihn abfeuerten. Die Wunden sind heute vernarbtes Gewebe. Eine Kugel steckt noch immer in seinem Knie; es schmerzt, wenn das Wetter wechselt. Unter dem Kinn der Mutter prangt ein hässlicher weißer Fleck. Als sei das Gesicht eine Landkarte, ziehen sich Falten wie Flüsse entlang der Wange; tiefe Furchen einer Kraterlandschaft gleich schlängeln sich vorbei an den Augen, die immer feucht sind wie ein kleiner See. Wer in diese Augen blickt, kann erahnen, wie schön sie einmal gewesen sein muss. Doch die Jahre als Flüchtling haben sie gezeichnet. Sie gibt kaum noch Acht auf sich selbst, muss immer wieder laut schluchzen und verschwindet ins Nebenzimmer, um die Gäste nicht zu stören. Der Vater richtet dann den Blick zu Boden, als würde er sich schuldig fühlen. Eingesunken in das verschlissene Sofa lässt er die Hände in den Schoß fallen und blinzelt schnell ein paar Tränen weg. Er sitzt dort wie ein alter Professor, in seinem Anzug, den er jeden Tag bügelt, obwohl er nie zur Arbeit geht. 
Denn die ist angesichts der sogenannten  Bumiputra-Politik den Malaysiern vorbehalten. Den privilegierten Einwohnern, die ihr Zweite-Welt-Land in den nächsten zehn Jahren zu einer Industrienation bringen wollen. Nicht zuletzt mit den etlichen Gastarbeitern, die für einen Hungerlohn arbeiten müssen. Nach den schon nicht mehr ganz so privilegierten Chinesen und noch viel weiter nach den armen Indern flackert das Schlusslicht aus Menschen, die nicht einmal mehr eine Nationalität ihr eigen nennen können. Sie sind nur noch „die Flüchtlinge“. Staatenlos, hilflos, mittellos. Und rechtelos. Denn das Land weigert sich, die Genfer Flüchtlingskonvention zu unterschreiben. Wie ein bockiges Kind stellte sich die Regierung gegen jegliche Kooperation mit dem UNHCR. Das ist sehr viel bequemer – und vor allem sicherer. Denn die Vorbereitungen auf die nächste nationale Wahl laufen schon. Mit dem Verweis auf ihr hartes und konsequentes Durchgreifen gegenüber den Flüchtlingen sollen Punkte gesammelt werden. Auch das Vorbild Singapur ist ein Evergreen. Immerhin schützt die Regierung ihre Bevölkerung und auch die Wirtschaft vor den Nachteilen dieser Flüchtlingswelle. Die fehlende Unterschrift lässt Malaysia also freie Hand.

Zwar gab es in den letzten Monaten erstmals nennenswerte Veränderungen: die Regierung äußerte sich öffentlich zur Situation der Flüchtlinge und stellte sogar in Aussicht, legale Arbeit für die Flüchtlinge zu dulden. Doch ob solche Versprechen eingehalten werden, ist angesichts der vergangenen Ereignisse fraglich. 2004 kam eine gewaltige Flüchtlingswelle aus Myanmar nach Malaysia. Statt frei zu sein, wurden sie gefangen und in die gefürchteten Lager gesteckt. Als die Regierung  versprach, ihren Aufenthaltsstatus endgültig zu regeln, hatten sie wieder Hoffnung. Gegen eine Gebühr sollten sie spezielle Ausweisdokumente bekommen. Und tatsächlich begann das Innenministerium mit der Registrierung. Bis es im Jahre 2006 den ganzen Prozess stoppte – ohne den bis dahin 5.000 erfassten Flüchtlingen die Erlaubnis zu gewähren. Und ohne ihnen ihr Geld zurück zu geben. Als der UNHCR um Zugang zu den Lagern bat, verweigerte die Regierung jegliche Zusammenarbeit. Stattdessen kritisierte der Innenminister die Organisation aufs Schärfste. Sie behindere nur die Abschiebung der Flüchtlinge. Außerdem sei er in keiner Weise zur Kooperation verpflichtet.
Bis heute sitzen noch immer 173 Männer, Frauen und Kinder im Lenggeng Immigration Detention Center – keiner kann raus, keiner kann rein. Und das alles wegen einer fehlenden Unterschrift unter der Genfer Konvention.
Malen als einziger Ausdruck ihrer Gefühle

Nafiseh sitzt nicht in diesen Lagern. Sie ist schon gefangen – in ihrem ganz persönlichen Alptraum, in dem die Frauen und Kinder vor ihren Augen erschossen werden. Die Tage waren wie Nächte. Als würde die Sonne nie mehr aufgehen – so fühle es sich an, wenn man die Hoffnung verliert. Letztes Jahr, da hatte sie keine Kraft mehr, mit diesen Träumen zu leben. Da nahm sie eine Überdosis Paracetamol; in der Hoffnung, nur noch ein einziges Mal einschlafen zu müssen. Der sozialärztliche Notdienst bescheinigte ihr eine posttraumatische Belastungsstörung; eine Psychotherapie wurde angeraten. In den westlichen Ländern werden solche Symptome mit viel Aufwand, Geld und Zeit behandelt. Undenkbar und in weiter Ferne liegen diese Dinge für Nafiseh. Auch Krankenversicherungen kommen im Flüchtlingsvokabular nicht vor.
Die seelischen Wunden schmerzen. Um sie zu ertragen, malt sie. Sie malt  Portraits von verhüllten Frauen; Rosen und Stillleben. Am liebsten aber zeichnet sie weite Landschaften, mit sattgrünen Tälern und azurblauen Flüssen. Nur Sonnenaufgänge, die gibt es auf diesen Bildern nicht.


Marthe Rennert