Taktvoll

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Taktvoll

Wenn an einem gewöhnlichen Nachmittag in Kuala Lumpur plötzlich ein Trommelwirbel erklingt, dann ist ein Mann dafür verantwortlich. Seine Mission: die Menschen dieser Welt vereinen. Für ein paar Stunden, mit einem einfachen Rhythmus.

Ein Sonntagnachmittag, ein  grau gepflasterter Platz nahe der Innenstadt. Die Hitze flimmert auf den öden Steinen, in ihrer Mitte verharrt ein Springbrunnen in seiner Unbeweglichkeit, nur sein Wasser plätschert leise vor sich hin. Am Rande stehen zwei kleine Läden; sie wirken verschlafen, wie ihre Verkäufer, die im Schatten sitzen und in die Leere starren. Es herrscht eine anonyme Ruhe, die gelegentlich von einzelnen Passanten durchbrochen wird. Langsam schlurfen sie an den Holzbänken vorbei, auf die sich niemand setzen mag. 
Als ein älterer Mann den Platz betritt, scheinen die Verkäufer aus ihrer Starre zu erwachen. Sie springen auf, winken und verschwinden hinter Vorhängen. Auffällig ist der Mann nicht, er trägt Jeans und ein Basecap. Sein Gang ist schleppend und beim Laufen beugt er sich vornüber. Der Grund dafür ist ein überdimensionaler Rucksack und zwei weitere in je einer Hand. Am Springbrunnen macht er Halt, schaut sich kurz um und stellt sein Gepäck ab. Er öffnet den Reißverschluss des Rucksacks und holt eine große Trommel hervor. Sie ist aus Holz gearbeitet, mit Kuhleder bespannt und durch bunte Bänder verziert. Der Mann schlägt einmal mit der flachen Hand auf die gegerbte Haut, ein dunkler dröhnender Ton klingt über den Platz. Zufrieden packt er auch die anderen Trommeln aus. Jede wird mit einem kräftigen Schlag auf ihre Tauglichkeit getestet. In diesem Moment kommen die Verkäufer aus ihren Geschäften. Sie bringen ein paar graue Plastikhocker, die sie in einem Kreis um den Mann herum platzieren. 
Paul heißt er. Oder Trommel-Paule, wie seine Freunde ihn nennen. Seit 1996 kommt er jeden einzelnen Sonntag an diesen Platz. Zweiundfünfzig mal im Jahr, auch bei Regen. Er spielt Gitarre und Ukulele und bezeichnet sich als Idealisten. Ein Weltverbesserer, ein bisschen auch Traumtänzer, der unerschütterlich an das Gute in den Menschen glaubt. „Die malaysische Politik trennt die Menschen. Wir entfernen uns immer mehr voneinander.“ Das Trommeln bringe die Leute wieder näher zusammen, sagt er entschlossen und winkt eine Gruppe kalkweißer Mädchen heran, die sich am Rande des Springbrunnens herum drücken. Zögernd kommen sie näher und nehmen sich eine der Rasseln. Später werden sie den Platz glücklich verlassen; Paul weiß das. Es sei immer das Gleiche – erst traut sich keiner, dann kommen sie aus sich raus, früher oder später, und dann wollen sie nicht mehr weg.

Paul setzt sich auf einen der Hocker, klemmt seine Trommel zwischen die Knie und wird ganz ruhig. Er lässt Kopf und Arme hängen, schließt die Augen. Der Platz verfällt mit ihm in einen Sekundenschlaf, sogar die zwitschernden Vögel halten für einen Moment den Schnabel. Kein Ton ist zu hören, alle starren gespannt auf den konzentrierten Mann. Dann plötzlich spannt sich sein Rücken und ein Feuer entfacht in seinen Augen. Jetzt schnellen seine Hände  auf die Trommel herab; wie wahnsinnig drischt er auf das Leder ein und hämmert einen mitreißenden Rhythmus; dumpfe Bässe mit der flachen Hand, mit den Fingerknöcheln blecherne Töne.  Laut und durchdringend schnellen die Takte in alle Richtungen. Sobald sie in die Ohren der Passanten dringen, bleiben sie stehen,
 als bräuchte der Ton eine Weile, um einzudringen. Dann, unweigerlich, müssen sie sich bewegen. Erst zögerlich, bald schneller. Sie zucken mit den Schultern, der Kopf beginnt zu wackeln, auch die Füße wollen nicht mehr still halten. Keiner kann sich den Rhythmen entziehen. Mit einem Mal ist der Platz mit Menschen gefüllt, die sich zu einer zappelnden Masse vereinen. Als würden sie sich gegenseitig anstecken, beginnt jeder irgendeinen Körperteil zu bewegen. Ein kollektiver Rausch, ein Zuckeln und Ruckeln um den Mann mit der Trommel.
„Where are you from?“, schreit Paul zur anderen Seite des Springbrunnens.  „Greek!“, brüllt ein zotteliger junger Mann zurück. „Keep your money, you will need it“, lacht Paul und trommelt unbeirrt weiter. Er kennt sich aus in der Welt, in der Politik, auch mit der Wirtschaft und er weiß um die kulturellen Barrieren zwischen den Menschen. Viel gereist, erklärt dieses Wissen plump. In seinen Augen kann man die Erfahrungen sehen, die er machte. Kleine Fältchen erzählen eine lange Geschichte. Er spricht ruhig und langsam, als könne ihn nichts auf dieser Welt  erschüttern. Beim Trommeln sowieso nicht. Die weißen Mädchen haben den Rhythmus nicht im Blut, sie rasseln gegen Pauls Takt an, es klingt unharmonisch. Paul schnippt mit seinen Fingern und schüttelt seine imaginäre Rassel, die Mädchen tun es ihm gleich. Schon spielen sie wieder gemeinsam.
Die Gemeinsamkeit. Sie ist es, die an diesem Platz entsteht. Ein Gefühl der Einheit, das die Menschen ausfüllt. Sie trommeln zusammen, als gäbe es keine Rassenpolitik, keine sozialen Unterschiede oder Hautfarben. Es gibt keine Konkurrenz und keine Kritik. Jeder kann trommeln, sagt Paul; im Gegensatz zur Musik ist es nur ein Rhythmus, und der ist keine Frage des Geschmacks. Oder der Herkunft.
Mittlerweile ist der Platz zu einem multikulturellen Land geworden, ein Mikrokosmos; die Welt in ihrer Miniaturausgabe: Eine Familie aus Italien, die noch nie in Asien war. Der australische Backpacker, der seit zwei Nächten nicht geschlafen hat. Eine alte Chinesin, auf der Durchreise. Sogar ein Neugeborenes in den Armen seiner Mutter, wo es eine Plastikrassel schüttelt. Schon im Takt, natürlich. Die Atmosphäre ist berauschend. Jeder trägt seinen Teil dazu bei, mit Trommeln, Rasseln und Percussions, manche klatschen einfach nur in die Hände. In diesem Moment, an diesem Platz, sind alle gleich. 
Zwei Stunden später beginnt es zu dämmern und Paul schlägt ein letztes Mal kräftig auf das Leder. Er bedankt sich für die „großartige Session“ und verabschiedet sich bei jedem mit einem Handschlag. Nach und nach verlassen die Menschen den Kreis, mit einem eigentümlichen Lächeln im Gesicht. Als alle verschwunden sind, liegt der Platz wieder in aller Ruhe da. Das Wasser im Springbrunnen plätschert noch immer vor sich hin, die Vögel zwitschern ein leises Lied, und die Holzbänke werden von der Dunkelheit verschluckt. Wer jetzt vorbei kommt, der wird verwundert stehen bleiben, weil er ein seltsames Gefühl verspürt.  Es sind die Reste der Zusammengehörigkeit, die sich langsam auflösen.