Warum das Herz in die Hose rutscht

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Warum das Herz in die Hose rutscht

alles, was ich finden konnte!
Alles ist schwer. Ich bin schwer beeindruckt von den Menschen in diesem Land. Die Taschen mit den Büchern und Heften, die ich trage, sind schwer. Mein Herz, als ich die zwei Brüder sehe, die jede Nacht in einem Tempel schlafen. Das Gefühl ist schwer zu ertragen, dass sich niemand um sie kümmert. Und es ist schwer zu glauben, dass diese beiden Jungs oder auch die restlichen Kinder jemals eine Chance auf ein faires Leben haben werden. 

Ich befinde mich mitten in der kambodschanischen Provinz Takeo, in einem Dorf weit entfernt von asphaltierten Straßen und Elektrizität. Vom „Bahnhof“ aus heuere ich einen Rollerfahrer an und nenne ihm die „Adresse“, die vage Auskunft über die Straße gibt, wo die „Schule“ liegen soll. Dreimal Anführungszeichen in einem Satz? Ganz einfach deswegen, weil diese Worte nicht ansatzweise mit einem Bahnhof oder einer Schule in Deutschland zu vergleichen sind.

20 Minuten holpern wir über die von Schlaglöchern übersäte Straße; vorbei an kilometerweiten Reisterrassen. Auf jedem Feld heben die Menschen die Köpfe, sehen mir erstaunt hinterher und winken. Ich fühle mich bald wie die Queen bei dem ganzen Gewinke, das ich natürlich erwidere während mein Grinsen immer breiter wird. Diese Leute freuen sich ehrlich und aufrichtig, mich zu sehen - und ich mich erst!



Wir biegen auf einen kleinen Hof. Die Schule ist ein bunt bemalter Betonbau mit Strohdach. Es gibt eine Tafel und ein paar Bänke. Ein Hund springt mich schwanzwedelnd an und besudelt mich mit Dreck. Aber außer dem Hund, ein paar gerupften Hühnchen, einer Entenfamilie und ein paar weißen, abgemagerten Kühen ist niemand hier. Ich rufe die ganze Zeit hellohello, und will den Rollerfahrer um Hilfe bitten, aber der ist schon in einer Staubwolke verschwunden. Er  ahnt wohl nicht, dass ich als Ausländerin hier völlig hilflos und aufgeschmissen bin. 

Also mache ich mich alleine auf die Suche. Ich frage an ein paar Nachbarhöfen, ob jemand wüsste, wo der Lehrer Heng Chum ist, der hier unterrichtet. Aber ich werde meist nur mit großen Augen angestarrt und bekomme eine Antwort auf Khmer. Irgendwann treffe ich einen kleinen Jungen, der mit seinem klapprigen Fahrrad neben mir hält und mich auf Englisch fragt (endlich!), ob er mir helfen könne. Nachdem ich ihm erklärt habe, was ich eigentlich will, lädt er mich ein, auf seinen Gepäckträger zu springen und fährt mich schmerzhafte 5 Minuten  zu einem Reisfeld, wo ich endlich Heng Chum treffe! Er entschuldigt sich, dass er nicht da war, aber er hatte ja auch keine Ahnung, wann ich komme. Handys existieren hier nicht.
Heng Chum vor seiner "Schule"

Am Abend liege ich mit Heng Chum, seiner Frau und seinem dreijährigen Sohn in Hängematten. Es ist stockdunkel; die Batterie für die einzige Lampe hier muss noch bis Ende des Monats reichen und wird nur im Notfall gebraucht. Wir essen Reis mit Hühnchen, das ich nur schwer runterwürgen kann, weil das Ding vorhin noch um meine Beine gehüpft ist.

Ursprünglich war mein Plan, die 50 Schul- und Schreibhefte dort abzuliefern, freundlich Hallo zu sagen und wieder zurück in mein weiches Bett in Phnom Penh zu schlüpfen. Jetzt liege ich auf dem Boden der Schule ohne Kissen oder Decke und rolle mich die ganze Nacht von Schmerzen geplagt hin und her. (Wer einmal versucht hat, auf einem Betonboden zu schlafen, weiß wovon ich rede!) Matratzen gibt es hier jedenfalls auch nicht.

Es ist heiß und die Frösche auf den Reisfeldern veranstalten ein unerhörtes Konzert, das jeglichen Gedanken an Schlaf vernichtet. Ich stinke schon jetzt wie ein alter Käse. Schweiß, Staub und Hundespucke kleben an mir wie die Fliegen im Netz der Spinne.

Eine Dusche gibt es hier selbstverständlich ebenso wenig wie Zahnpasta oder Seife.

Aber all diese Unannehmlichkeiten für einen verwöhnten Europäer wie mich sind am nächsten Morgen wie weggeblasen, als um 9 Uhr die ersten Kinder angetrottet kommen und mich lärmend aufwecken. Ich fühle mich ein bisschen wie der Affe im Zoo, als sie mit dem Finger kichernd auf mich zeigen. Vermutlich sehe ich in ihren Augen aus wie ein riesiger rosa Pelikan, der da auf einmal in ihr Dorf spaziert kommt. 

Sie freuen sich maßlos über die Hefte und kritzeln sofort ihre Namen in unförmigen Buchstaben auf die erste Seite. Wir spielen „Galgenraten“, was angesichts der Vergangenheit dieses Landes vielleicht etwas unpassend ist. Also „ich packe meinen Koffer“, was in einem Chaos endet, weil alle gleichzeitig etwas einpacken wollen.

Zwischen den fröhlichen und ausgelassenen Kindern bemerke ich zwei stille und offensichtlich eingeschüchterte Jungs. Der jüngere von ihnen trägt eine Augenklappe.

Ich frage Heng Chum, was mit den beiden los ist und bekomme eine nüchterne Antwort. Die Eltern sind tot. Die Geschwister schlafen Nacht für  Nacht in einem Tempel  und laufen jeden Morgen die 5 Kilometer zur Schule. Der 8jährige Junge hat sein Auge durch eine Infektion verloren und in seinem Leben noch kein Krankhaus von innen gesehen. Manchmal bekommen die beiden etwas von den Mönchen zu essen; manchmal in der Schule, wenn etwas übrig bleibt. Ansonsten können sie nicht auf die Hilfe von Erwachsenen geschweige denn der Regierung hoffen. Damit gehören sie zu den Tausend anderen Kindern in Kambodscha, die ihr Leben als Bettler beginnen und es aller Voraussicht nach ewig bleiben werden.

Ich hebe vorsichtig die Augenklappe.

Mir rutscht das Herz in die Hose.

am liebsten hätte ich die beiden eingepackt und mitgenommen
Ich schnappe mir den Kleinen und fahre in das nächste Krankenhaus. Dort wird der Rest des infizierten Auges gesäubert. Der Junge hat furchtbare Angst und weiß überhaupt nicht, was mit ihm geschieht. Ich will ihm die Hand halten, aber er ist so menschenscheu, dass er sich auf der Liege einrollt und die Prozedur widerwillig über sich ergehen lässt. Er braucht Augentropfen, erklärt mir der Arzt. Ich kaufe ihm die Tropfen für einen Dollar und wir fahren zurück zur Schule.

Ich verbringe noch einen herrlichen Nachmittag mit den Kindern. Wir spielen Volleyball, jagen uns über den Hof und wälzen uns mit dem Hund im Dreck. Es ist herrlich.

Aber ich muss wieder zurück. Zurück in mein privilegiertes Leben mit 3 Mahlzeiten am Tag, einem Dach über dem Kopf, einem teuren Studium und meiner Möglichkeit, zu reisen.

Eines beschließe ich, als ich in den Bus nach Phnom Penh steige: Wenn ich mich das nächste Mal über die lange Warteschlange an der Kasse ärgere; wenn ich über das Regenwetter jammere oder mich über die hohen Benzinpreise beschwere…

dann denke ich erst mal an diese Kinder. 

1 Kommentare:

Thomas hat gesagt…

Hallo Marthe, es ist immer wieder spannend Deine berichte zu lesen, ich hoffe das Du wennn Du wieder in HH bist wir uns wieder übern Weg laufen, LG, Dein Postmensch :-) Thomas