Staatsfein Nr. 1

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Staatsfeind Nr. 1

Ich bin froh, nicht mehr in Vietnam zu sein. Meine Reise dort stand unter keinem guten Stern. Vielleicht war es auch ein bisschen meine Schuld, dass ich ausgeraubt wurde - die Tasche mit den dünnen Trägern hing aber auch zu verführerisch über meine Schulter. Ich sehe ihn schon im Augenwinkel schräg hinter mir her laufen und wundere mich noch, warum er so nahe kommt - die Straße ist wirklich breit genug! Und während ich so fahrig darüber nachdenke, reißt er mir die Tasche auch schon ab und rennt los. Im selben Moment fliegen meine Flipflops durch die Luft, als ich einen Sprint hinlege und die Verfolgung aufnehme. Der arme Junge ist nicht besonders schnell mit seinen kurzen Beinen und wäre da nicht sein Kollege, der ihn mit dem Roller abholt, hätte ich ihn erwischt. Ich kann gerade noch sein T-Shirt greifen, als er auch schon aufspringt und mich damit zu Boden reißt. Ich schlittere bäuchlings einen guten Meter über den nassen Asphalt und fluche ihm wild hinterher, während die beiden schon um die nächste Ecke biegen. Das Resultat dieses 5-sekündigen Actionfilms ist ein Loch in meiner Hose, ein aufgeschürftes Knie, ein abgebrochener Fingernagel und 2 Tage wilde Szenarien in meinem Kopf, wie ich ihn vom Roller reiße und mein Tränengas ins Gesicht drücke…. 

Aber ich will nicht nachtragend sein und Hass ist nicht gut für den Blutdruck. Ich wandele meine bösartigen Gedanken ins Positive und sehe das Ganze wie eine Spende. Die Menschen hier verdienen monatlich vielleicht 40-50 Euro. Wie kann man es ihnen da verübeln, einer deutschen Touristin mal etwas abzunehmen? Dass er mir damit eine Menge Stress bereitet, hat er wohl nicht geahnt, als ich am nächsten Morgen in der Polizeiwache stehe und Anzeige erstatten will. Nicht, dass das etwas bringen würde (vermutlich bekäme der Dieb noch einen ordentlichen Applaus von den Beamten), aber die deutsche Bürokratie verlangt für Schadensersatz so etwas wie ein Aktenzeichen… ein Aktenzeichen, so so. Ich ahne schon, dass so etwas nicht existiert, als ich die gähnend leeren Regale in der Polizeistation sehe. Von einem Computer ganz zu schweigen. Ein paar uniformierte Vietnamesen lümmeln sich auf Stühlen und dem Boden, gucken fern, lesen Zeitung und - schläft da tatsächlich jemand auf dem Tisch??

Ich verkneife mir ein Grinsen und räuspere mich einmal kräftig; werde zur Antwort aber nur mit einem schiefen Blick bedacht und dann ignorieren sich mich auch schon wieder. Aha, so ist das also, ihr Blödmänner, denke ich und halte meine aufkeimende Wut in Schach. „Hallo, ich würd hier gern mal einen Report machen, junger Mann!“ Da steht tatsächlich einer auf und überschwemmt mich mit einer Salve aus vietnamesischen Lauten (ich verstehe kein Wort, schlußfolgere jedoch, dass er mich nicht besonders leiden kann…) Ich starre fasziniert auf das lange Haar, das ihm aus der Nase sprießt. Und während ich noch starre, dreht er mir den Rücken zu und lässt mich stehen. Eiskalt. Ich vermute mal, er spricht kein Englisch. Tja, was macht man nun, ohne Dolmetscher oder sonst wen, der irgendwie helfen könnte? In meinem Guesthouse zucken sie auch nur mit den Schultern.

Am nächsten Tag versuche ich es nochmal. Andere Beamte, das gleiche Spiel. Keine Chance auf Hilfe.

Am dritten Tag marschiere ich selbstbewusst mit einem jungen englischen Lehrer, den ich im Hotel kennen gelernt habe und der ein bisschen vietnamesisch spricht, erneut in die Wache. Daniel erklärt einem mäßig interessierten Beamten die Lage. Und dann fragt der Polizist empört, warum ich denn nicht schon früher gekommen sei - da könne er jetzt auch nichts mehr machen…

Am vierten Tag habe ich schon fast aufgegeben und will abreisen, aber mein Sturkopf lässt mich nicht. Mit einem Zettel, auf dem ich auf vietnamesisch (!!) um Hilfe bitte, klopfe ich ein weiteres Mal an die Tür zur Staatsgewalt. Man liest ihn sich sogar durch! Ja, nur hat hier keiner Lust zu arbeiten. Ich solle den Zettel erst mal von meinem Hotel abstempeln lassen! Wie bitte? Welchen Sinn macht denn sowas?! Jetzt werde ich furchtbar ungehalten und böse über diese ganze Verarsche und halte dem Beamten einen 5-Dollar-Schein unter die Nase. Ob er mir denn dafür bitteschön eine Anzeige schreiben würde?! Und auf einmal winkt er mich herein, lässt mich auf einem Stuhl Platz nehmen und legt mir einen Zettel vor. Ich schreibe meine Geschichte in herzzerreißendem Englisch nieder und zeige ihm vorsichtshalber noch meine Fleischwunde am Knie  - mit Tränen in den Augen. Das zieht. Eine Minute später stehe ich wieder vor der Polizeiwache; aber diesmal mit einer abgestempelten Anzeige in der Hand. 

Er hat sich meinen Bericht nicht mal durch gelesen…

endlich, das ersehnte Dokument!