Hoffnung für Kambodscha
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Hoffnung für Kambodscha
Kindersoldat, Cyclo-Fahrer, Lehrer. Heng Chum versucht, in seinem von Krieg und Armut verfolgten Land eine Zukunft zu gestalten. Nicht für sich, sondern für die verwaisten und obdachlosen Kinder Kambodschas.
Heng Chum sitzt vor seiner Hütte in der kambodschanischen Provinz Takeo und schraubt die linke Wade fest. Er seufzt dabei. Die Prothese hat er, seit er mit 16 Jahren auf eine Mine stieg. Sie sitzt schlecht. „No good quality“, sagt er, aber Geld für eine Neue hat er nicht.
$15 im Monat verdient Heng Chum durch die Arbeit auf den Reisfeldern, und gibt sie größtenteils für seine 30 Schüler aus. Für Papier, Stifte und Kreide. Seine Frau beschwert sich deswegen, aber Chum, wie ihn alle nennen, hört dann einfach weg.
Jeden Tag geht er zu den Reisfeldern, von 2 bis 5 Uhr morgens. Dann legt er sich nochmal schlafen, auf den nackten Betonboden in seiner Hütte, die gleichzeitig Klassenzimmer, Wohnzimmer und Küche ist. Manchmal müssen seine Schüler ihn aufwecken, wenn sie zum Unterricht kommen.
Chum ist 40 Jahre alt und gehört damit zu den wenigen älteren Menschen in Kambodscha, die das Regime unter Pol Pot überlebt haben. Als die Roten Khmer am 17. April 1975 die Macht übernahmen, ermordeten sie rund zwei Millionen Kambodschaner. Die kommunistische Idee Pol Pots war einfach: Wer eine Brille trug oder eine Fremdsprache beherrschte, wurde als Parasit bezeichnet und systematisch zu Tode gefoltert. Heute ist fast die Hälfte der Einwohner unter 18 Jahre alt.
Wenn Chum den Namen Pol Pot hört, senkt er den Blick und legt die Stirn in Falten. Er erinnert sich genau an den Tag, als die Roten Khmer in sein Dorf kamen. Vor seinen Augen wurde der Vater ermordet; mit einem Messer schlitzten sie ihm die Kehle auf und transportierten den sterbenden Körper auf einem Laster ab.
Chums Familie gehörte nicht zu den Intellektuellen, aber die Roten Khmer suchten selten einen Grund für ihre Morde.
1984 rückten die Vietnamesen ins Land und die Roten Khmer begannen, Soldaten für die Verteidigung zu rekrutieren. Darunter war auch der 14jährige Chum, der bald an der thailändischen Grenze für die Mörder seines Vaters kämpfte. „Ich hatte keine Ahnung, warum ich diese Waffen benutzte. Warum mein Vater ermordet wurde, habe ich nie verstanden. Ich wusste ja nicht einmal, dass überhaupt Krieg herrscht.“
Chum wusste nie besonders viel. Durch den Bürgerkrieg in seinem Land bekam er keine Chance, eine Schule zu besuchen. Aber er beschwerte sich nicht. Er drückte nur immer wieder den Abzug seiner Waffe, sobald ein Vietnamese in sein Blickfeld geriet. Zwei Jahre lang kämpfte Chum, und er war ein guter Soldat.
Bis er auf die Mine trat. „Es war eine von den chinesischen Fröschen“, erinnert er sich. So genannt wegen ihres knackenden Geräuschs, kurz bevor sie detonieren. Sein halbes Bein riss sie ihm weg.
Jeden Tag zeigt er seinen Schülern das halbe Bein aus Hartplastik. „Um sie vor den Landminen zu warnen, die hier überall rumliegen.“ Anschaulichen Unterricht nennt er das dann und grinst schief. Nur seine Augen lachen nicht.
Um 11 Uhr beginnt der Unterricht. Heng Chum verteilt Hefte und Stifte, bei jedem Schritt quietscht sein Bein. Auf kleinen Holzbänken drängeln sich die Kinder aneinander und lauschen eifrig Chums stockendem Englisch. Über den Köpfen der Schüler hängen Zettel mit willkürlich ausgewählten Vokabeln. practise und sunrise steht dort. basket oder chicken, und auf einem I don’t have parents.
Die Schüler auf den Holzbänken sind Waisen. Wie 100.000 andere Kinder haben sie ihre Eltern durch AIDS oder Minen verloren. Manche wurden verlassen oder ausgesetzt. Die Armut treibt die Menschen zu solchen Taten, glaubt Chum. Und die Armut in Kambodscha ist zermürbend.
Die Kambodschaner wollen vergessen, denn zu viel Leid mussten sie ertragen. Kaum eine Familie heute hat nicht wenigstens einen Vater, einen Sohn oder eine Tante verloren. Jeder von ihnen kämpft ums Überleben. Ein Drittel der Bevölkerung lebt von der Feldarbeit, in ärmlichen Hütten auf dem Land mit ein paar Hühnern und Kühen, aber ohne Aussicht auf ein zivilisiertes Leben.
Auch Chum ist gut im Vergessen. Seine einzige Wahl, wenn er nicht jede Nacht von den Dämonen in seinem Kopf heimgesucht werden will. Er verdrängt die Vergangenheit erfolgreich. Wenn da nur das Bein nicht wäre.
Drei Jahre lang nach dem Unfall verkroch er sich zu Hause bei seiner Mutter. Beschämt über seine Behinderung, unfähig zu gehen und von Depressionen verfolgt. Er sah weder Zukunft noch Hoffnung in dem zerstörten Land; denn da waren die Grenzen zu Thailand und damit der einzige Ausweg bereits geschlossen.
Irgendwann zu dieser Zeit muss es passiert sein, da kam ein Bekannter aus der Stadt zu Besuch und brachte Lebensmittel. Eier und Brot; richtiges Brot, erinnert sich Chum. Und ein Buch. Aus dem Ausland. Chum wusste weder, dass es sich bei dem Buch um ein englisches handelte, noch wie er die seltsamen Wörter entziffern sollte.
An einem verregneten Morgen im Oktober, als Chum 20 Jahre alt wurde, fuhr er per Anhalter nach Phnom Penh; das Buch unter den Arm geklemmt, auf einem Bein hüpfend. „Ein paar Tage schlief ich auf der Straße“, sagt er und es klingt ein bisschen stolz als er davon erzählt, wie er zu seinem ersten Job kam. „Ein alter Cyclo-Fahrer hat mir sein Fahrrad geliehen, wenn er schlafen ging.“
Chum fuhr dann Einheimische nach Hause, jede Nacht, mit seinem einen funktionierenden Bein. Am Tag legte er sich in einen Tempel zum Ausruhen; den Kopf auf das Buch gebettet.
Irgendwie sei es so gewesen, dass dieses Buch ihm eine neue Aufgabe gab im Leben; ein wenig Zuversicht im Elend. Und dann, in einer schwülen Nacht, als er seinen letzten Fahrgast nach Hause strampelte, kam ihm die Idee.
Eine Schule sollte es sein. Wo Kinder Englisch lernen könnten und dann vielleicht eine Zukunft hätten. Für sich selbst sah Chum schon keine Hoffnung mehr; verkrüppelt und ohne Ausbildung, zu alt.
Das Land war mittlerweile unter die Aufsicht der UNO gestellt und Frieden kehrte ein. Nur brachte der Frieden keine Arbeit mit sich. Das Land versank in einer Depression und erholt sich noch heute von den Folgen.
Und Chum lernte. Er las in dem Buch, das er nicht verstand, bis eines Tages ein kleiner Buchladen öffnete. Von seinen paar Riel, die er in den Monaten als Cyclo-Fahrer angespart hatte, kaufte er sich ein Wörterbuch: Khmer - Englisch. Müde saß er im Tempel, Tag für Tag und studierte die Wörter. Als die ersten Touristen in Kambodscha einkehrten, sprach er mit ihnen und probierte seine neuen Fähigkeiten aus.
Seit 10 Jahren kommen die mageren, verwaisten Kinder zu Chum. Geld können sie ihm für seinen Dienst als Lehrer nicht geben. „Dass ich ihnen ein bisschen was mit auf den Weg geben kann, ist mir Bezahlung genug“, sagt er. Viel mehr erwarte er auch nicht. Und dass die Regierung sich gegen jede finanzielle Unterstützung weigert, sei noch ein Grund mehr, selbst etwas zu tun. „Wie soll denn die Zukunft der Kinder sonst aussehen?!“
Arbeiter in einer chinesischen Textilfabrik, Cyclo-Fahrer, mit etwas Glück ein Job in der Tourismusbranche, ansonsten Bettler. So sehe es aus, schimpft Chum und schreibt eine letzte Vokabel auf das Blatt. Work.
Als es dämmert, schickt Chum seine Schüler nach Hause. Oder zurück in den Tempel. Die meisten drücken sich noch eine Weile am Hoftor herum; sie wollen nicht gehen.
Chum lässt sich erschöpft auf eine der Holzbänke fallen und schraubt die Wade ab. Er seufzt, erleichtert, das sperrige Ding los zu sein. Dann legt er sich schlafen. Ein paar Stunden hat er jetzt, bevor er wieder zur Arbeit auf den Reisfeldern muss.
Marthe Rennert
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Kindersoldat, Cyclo-Fahrer, Lehrer. Heng Chum versucht, in seinem von Krieg und Armut verfolgten Land eine Zukunft zu gestalten. Nicht für sich, sondern für die verwaisten und obdachlosen Kinder Kambodschas.
Heng Chum sitzt vor seiner Hütte in der kambodschanischen Provinz Takeo und schraubt die linke Wade fest. Er seufzt dabei. Die Prothese hat er, seit er mit 16 Jahren auf eine Mine stieg. Sie sitzt schlecht. „No good quality“, sagt er, aber Geld für eine Neue hat er nicht.
Heng Chum in seiner Schule |
Jeden Tag geht er zu den Reisfeldern, von 2 bis 5 Uhr morgens. Dann legt er sich nochmal schlafen, auf den nackten Betonboden in seiner Hütte, die gleichzeitig Klassenzimmer, Wohnzimmer und Küche ist. Manchmal müssen seine Schüler ihn aufwecken, wenn sie zum Unterricht kommen.
Chum ist 40 Jahre alt und gehört damit zu den wenigen älteren Menschen in Kambodscha, die das Regime unter Pol Pot überlebt haben. Als die Roten Khmer am 17. April 1975 die Macht übernahmen, ermordeten sie rund zwei Millionen Kambodschaner. Die kommunistische Idee Pol Pots war einfach: Wer eine Brille trug oder eine Fremdsprache beherrschte, wurde als Parasit bezeichnet und systematisch zu Tode gefoltert. Heute ist fast die Hälfte der Einwohner unter 18 Jahre alt.
Wenn Chum den Namen Pol Pot hört, senkt er den Blick und legt die Stirn in Falten. Er erinnert sich genau an den Tag, als die Roten Khmer in sein Dorf kamen. Vor seinen Augen wurde der Vater ermordet; mit einem Messer schlitzten sie ihm die Kehle auf und transportierten den sterbenden Körper auf einem Laster ab.
Chums Familie gehörte nicht zu den Intellektuellen, aber die Roten Khmer suchten selten einen Grund für ihre Morde.
1984 rückten die Vietnamesen ins Land und die Roten Khmer begannen, Soldaten für die Verteidigung zu rekrutieren. Darunter war auch der 14jährige Chum, der bald an der thailändischen Grenze für die Mörder seines Vaters kämpfte. „Ich hatte keine Ahnung, warum ich diese Waffen benutzte. Warum mein Vater ermordet wurde, habe ich nie verstanden. Ich wusste ja nicht einmal, dass überhaupt Krieg herrscht.“
Chum wusste nie besonders viel. Durch den Bürgerkrieg in seinem Land bekam er keine Chance, eine Schule zu besuchen. Aber er beschwerte sich nicht. Er drückte nur immer wieder den Abzug seiner Waffe, sobald ein Vietnamese in sein Blickfeld geriet. Zwei Jahre lang kämpfte Chum, und er war ein guter Soldat.
Die Schule in Takeo, Kambodscha |
Bis er auf die Mine trat. „Es war eine von den chinesischen Fröschen“, erinnert er sich. So genannt wegen ihres knackenden Geräuschs, kurz bevor sie detonieren. Sein halbes Bein riss sie ihm weg.
Jeden Tag zeigt er seinen Schülern das halbe Bein aus Hartplastik. „Um sie vor den Landminen zu warnen, die hier überall rumliegen.“ Anschaulichen Unterricht nennt er das dann und grinst schief. Nur seine Augen lachen nicht.
Um 11 Uhr beginnt der Unterricht. Heng Chum verteilt Hefte und Stifte, bei jedem Schritt quietscht sein Bein. Auf kleinen Holzbänken drängeln sich die Kinder aneinander und lauschen eifrig Chums stockendem Englisch. Über den Köpfen der Schüler hängen Zettel mit willkürlich ausgewählten Vokabeln. practise und sunrise steht dort. basket oder chicken, und auf einem I don’t have parents.
Die Schüler auf den Holzbänken sind Waisen. Wie 100.000 andere Kinder haben sie ihre Eltern durch AIDS oder Minen verloren. Manche wurden verlassen oder ausgesetzt. Die Armut treibt die Menschen zu solchen Taten, glaubt Chum. Und die Armut in Kambodscha ist zermürbend.
Heng Chum mit zwei seiner Schüler |
Auch Chum ist gut im Vergessen. Seine einzige Wahl, wenn er nicht jede Nacht von den Dämonen in seinem Kopf heimgesucht werden will. Er verdrängt die Vergangenheit erfolgreich. Wenn da nur das Bein nicht wäre.
Drei Jahre lang nach dem Unfall verkroch er sich zu Hause bei seiner Mutter. Beschämt über seine Behinderung, unfähig zu gehen und von Depressionen verfolgt. Er sah weder Zukunft noch Hoffnung in dem zerstörten Land; denn da waren die Grenzen zu Thailand und damit der einzige Ausweg bereits geschlossen.
Irgendwann zu dieser Zeit muss es passiert sein, da kam ein Bekannter aus der Stadt zu Besuch und brachte Lebensmittel. Eier und Brot; richtiges Brot, erinnert sich Chum. Und ein Buch. Aus dem Ausland. Chum wusste weder, dass es sich bei dem Buch um ein englisches handelte, noch wie er die seltsamen Wörter entziffern sollte.
An einem verregneten Morgen im Oktober, als Chum 20 Jahre alt wurde, fuhr er per Anhalter nach Phnom Penh; das Buch unter den Arm geklemmt, auf einem Bein hüpfend. „Ein paar Tage schlief ich auf der Straße“, sagt er und es klingt ein bisschen stolz als er davon erzählt, wie er zu seinem ersten Job kam. „Ein alter Cyclo-Fahrer hat mir sein Fahrrad geliehen, wenn er schlafen ging.“
Chum fuhr dann Einheimische nach Hause, jede Nacht, mit seinem einen funktionierenden Bein. Am Tag legte er sich in einen Tempel zum Ausruhen; den Kopf auf das Buch gebettet.
Irgendwie sei es so gewesen, dass dieses Buch ihm eine neue Aufgabe gab im Leben; ein wenig Zuversicht im Elend. Und dann, in einer schwülen Nacht, als er seinen letzten Fahrgast nach Hause strampelte, kam ihm die Idee.
Eine Schule sollte es sein. Wo Kinder Englisch lernen könnten und dann vielleicht eine Zukunft hätten. Für sich selbst sah Chum schon keine Hoffnung mehr; verkrüppelt und ohne Ausbildung, zu alt.
Das Land war mittlerweile unter die Aufsicht der UNO gestellt und Frieden kehrte ein. Nur brachte der Frieden keine Arbeit mit sich. Das Land versank in einer Depression und erholt sich noch heute von den Folgen.
ein Waisenjunge auf dem Weg zur Schule |
Seit 10 Jahren kommen die mageren, verwaisten Kinder zu Chum. Geld können sie ihm für seinen Dienst als Lehrer nicht geben. „Dass ich ihnen ein bisschen was mit auf den Weg geben kann, ist mir Bezahlung genug“, sagt er. Viel mehr erwarte er auch nicht. Und dass die Regierung sich gegen jede finanzielle Unterstützung weigert, sei noch ein Grund mehr, selbst etwas zu tun. „Wie soll denn die Zukunft der Kinder sonst aussehen?!“
Arbeiter in einer chinesischen Textilfabrik, Cyclo-Fahrer, mit etwas Glück ein Job in der Tourismusbranche, ansonsten Bettler. So sehe es aus, schimpft Chum und schreibt eine letzte Vokabel auf das Blatt. Work.
Als es dämmert, schickt Chum seine Schüler nach Hause. Oder zurück in den Tempel. Die meisten drücken sich noch eine Weile am Hoftor herum; sie wollen nicht gehen.
Chum lässt sich erschöpft auf eine der Holzbänke fallen und schraubt die Wade ab. Er seufzt, erleichtert, das sperrige Ding los zu sein. Dann legt er sich schlafen. Ein paar Stunden hat er jetzt, bevor er wieder zur Arbeit auf den Reisfeldern muss.
Die Schüler und ich; bei meinem Besuch in Takeo |
Marthe Rennert
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