im Zuge des Lebens

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im Zuge des Lebens

Man stelle sich das Leben bitte für einen kurzen Moment als Hochgeschwindigkeitszug vor. Halt! Nicht so einen von der Deutschen Bahn! Nee - so ein richtiges Speedteil! 1000 PS, metallic-rot lackiert, mit Xenonscheinwerfern, Ledersitzen, Stahlfelgen...

Ich schweife ab.

Man selbst ist natürlich der stolze Zugführer. Der Job ist ganz schön hart, weil man im 24-Stunden-Dienst arbeitet. 356 Tage im Jahr für locker 6 Jahrzehnte und mehr.

Regelmäßig hält man an, um ein paar Fahrgäste mitzunehmen. Manche steigen an der nächsten Station schon wieder aus - sie haben nur ein paar Minuten im hintersten Abteil gesessen und aus dem Fenster gestarrt. Sie sind unkompliziert und anspruchslos. Sie wollen nur einmal persönlich vom Zugführer begrüßt werden, um sich ein wenig zu unterhalten oder einen Kaffee zu trinken. Man vergisst sie schnell wieder, sobald sie aussteigen.


Manchmal steigt auch ein blinder Passagier zu. Er hat keine Fahrkarte und überhaupt keine Berechtigung, auch nur einen Fuß in den Zug zu setzen. Aber er tut es trotzdem. Er gehört zu der dreisten Sorte, der sich ständig über den Service beschwert; über die Uniform des Zugführers und dass es nicht schnell genug voran geht. Wenn man ihn erwischt und an der nächsten Station raus schmeißt, legt er gerne noch ein paar Steine auf  die Schienen...

Dann gibt es die Kurzzeit-Passagiere. Viele von ihnen bleiben mehrere Tage, Wochen oder Monate und besuchen einen im Führerhäuschen. Sie bringen Blumen und erzählen aus ihrem Leben. Sie sind alle sehr liebenswürdig und sympathisch; es macht Spaß, mit ihnen zu fahren und sie auf den Kurzstrecken kennen zu lernen. Aber viel zu oft müssen sie wieder los. Manchmal muss man eine richtige Vollbremsung hinlegen, damit sie ihr Ziel nicht verpassen. Die meisten lassen in der Hektik etwas im Abteil liegen, das man als vorbildlicher Zugführer an sich nimmt und so lange verwahrt, bis sie es eines Tages wieder abholen.

Und dann sind da die Langzeit-Fahrgäste, die schon seit Jahren in der zweiten Klasse sitzen und einfach nicht gehen wollen. Das freut einen natürlich, denn diese Leute sind alle gute Handwerker. Sie kümmern sich um die Tür zum Führerhäuschen, die gerne mal klemmt oder ölen die Räder, wenn der Zug nach einem langen Winter nicht mehr so schnell voran kommt. Oft setzen sie sich auch zum Zugführer und bleiben, um ihm Gesellschaft zu leisten.

Des Zugführers liebste Reisebegleiter sind jedoch die mit der Dauerkarte. Sie bleiben oft Jahrzehnte lang in der ersten Klasse und sind schon an den Ledersitzen festgewachsen. Aber sie reißen sich los, wenn der Zugführer müde ist und eine Pause braucht. Dann übernehmen sie das Ruder und man kann für ein paar Tage im Schlafwaggon ausruhen. Wenn man den Job am liebsten hinschmeißen möchte, ermuntern sie einen zur Weiterfahrt; schließlich warten noch andere Leute am nächsten Bahnsteig. Diese Dauerkartenbesitzer sind privilegiert. Nach einer gewissen Zeit kann der Zugführer sie nämlich in die Geheimnisse des Zuges einweihen. Wo die Tücken liegen und wie man den Schalthebel bedient. Worauf sie bei Nachtfahrten achten sollen und was sie im Falle eines Unfalls tun müssen oder wenn man die Geschwindigkeit überschreitet. Solche Dinge sind streng geheim zu behandeln, denn der Zugführer hat darauf schließlich ein Patentrecht!

Als Entschädigung für dieses Vertrauen haben sie oft gute Ratschläge parat, programmieren den Autopilot oder schlagen eine alternative Route vor, wo die Schienen besser sind. Und nicht selten tragen sie zu wunderbaren Parties bei. Sie trösten, lachen, tanzen, schreien und toben. Sie beanspruchen die Aufmerksamkeit des Zugführers und bekommen oft eine Treuebonus-Karte, die ihre Daseinsberechtigung ausweist. Und obwohl man diese Passagiere furchtbar gern hat und sie eine bereichernde Gesellschaft abgeben, müssen auch sie früher oder später den Zug verlassen. Aber sie schicken regelmäßig Karten oder kommen Jahre später nochmal wieder, um Hallo zu sagen.



Selten bleibt einer für immer. Der schließt dann einen Vertrag mit der Bahngesellschaft und legt die Beine hoch. In den Ledersitzen erster Klasse mit Rundum-Service und persönlicher Betreuung durch den Zugführer.

So ist das Leben im Zug. Es herrscht reger Betrieb in den Abteilen; man muss ständig die Karten kontrollieren, die Geschwindigkeit anpassen und das Führerhäuschen sauber halten. Anhalten, Fahrgäste mitnehmen, anhalten, Fahrgäste rauslassen. Es gibt keinen Leerlauf und keinen Stopp für den TÜV.  Es ist überwältigend. Es ist lustig, spannend, heikel, enttäuschend, einfach, glücklich, manchmal traurig, selten tragisch und oft eine echte Herausforderung. Kein Tag gleicht dem anderen; es gibt immer was zu tun und ständig klopft ein Passagier an die Tür.

Vor ein paar Tagen hielt ich in Kambodscha. Ein junger Mann aus Chile stieg zu. Er war ein bemerkenswerter Beifahrer, der die komplizierte Technik meines Zuges erstaunlich gut verstanden und meine Fahrt durchs Leben mit guter Unterhaltung und gemeinsamen Erlebnissen bereichert hat.

Leider hatte er nur ein Kurzstreckenticket gekauft und musste heute schon wieder umsteigen, in einen Bus nach Vietnam.

Ich steuere meinen Zug jetzt Richtung Thailand. Ein bisschen traurig bin ich, dass mein Begleiter weg ist - aber wenn ich die Augen zusammen kneife und gegen die Sonne blinzele, kann ich am Horizont schon die nächste Haltestelle sehen.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

oh madi, ich werd deinen Blog vermissen! aber ich bin auch froh, dich heil wieder daheim zu wissen! willkommen zurück, komm erstmal wieder an;-) ich drück dich feste:-* Neddi

Marthe hat gesagt…

danke, schätzi! sehen uns hoffentlich ende oktober auf marias geburtstag?