Süße Schmerzen

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der erste Abend auf Bali wird mit Bier begossen
Süße Schmerzen


Heimlich nenne ich ihn Juan, weil ich nach 2 Tagen nicht mehr fragen mag, wie er eigentlich heißt. Das macht aber auch nichts, denn er versteht sowieso kein Englisch (ich frage mich ernsthaft, wie man ohne zurecht kommt!) und so unterhalten wir uns mit meinen spärlichen verstaubten Spanischbröckchen oder mittels Pablo, der beim ständigen Übersetzen ganz schön ins Schwitzen kommt, der Arme. Juan alias jemand anderes und Pablo hatten schon im Flieger von Kuala Lumpur nach Bali ein Auge auf mich geworfen. Ich hab es genau gesehen und die beiden erst einmal ignoriert. Als ich dann am Flughafen kein Taxi finden konnte, sahen die beiden ihre Chance und nahmen mich mit. Da der Taxifahrer, welch Zufall, mein Hotel nicht finden wollte, nahmen sie mich auch noch mit in ihren Bungalow – und so hause ich nun mit zwei argentinischen Jungs in einer kleinen Hütte, die zunehmend verwahrlost (achtung: nicht meine Schuld). Die beiden sind verliebt: ein bisschen in mich und ganz schön doll ins Surfen, was ihre Nachlässigkeit in Sachen aufräumen erklärt. Besonderen Tiefgang habe ich von Anfang an schon nicht erwartet, aber sie machen tatsächlich die ganze Zeit nur Spaß. Sie sind selbst ein einziger großer Witz. Wie sie mich zum Lachen bringen, entschuldigt damit auch das Maurerdekolletee, das sie beide tragen (zur Erklärung: ein Maurerdekolletee bezeichnet eine so tief sitzende Hose, dass ein Großteil des Hinterns zu sehen ist). Außerdem wollen sie nicht auf meinen mütterlichen Rat hören und haben sich gleich am ersten Tag herrlich verbrannt; sie leuchten in fluoreszierendem Himbeerrot – zu meinem Vorteil, denn so kann ich sie auch nachts noch sehen, wenn sie in der Menge das zehnte Bier bestellen und sich furchtbar laut und peinlich benehmen. Ich schäme mich fremd und kommentiere ihr unsagbares Benehmen mit schiefen Blicken. Und trotz dieser Unzulänglichkeiten mag ich sie beide furchtbar gerne, weil sie einfach so sind wie sie sind.  
freakige Freunde - Pablo und Juan




es ist nur ein bisschen gefährlich...
Am Morgen nach unserer Ankunft werde ich von einem lauten Hupen geweckt. Kaum dass ich mich anziehen kann, um nach der Ursache für diesen Krach zu sehen, kommt ein pfeifender Pablo ins Zimmer und kneift mir in den Zeh. Jetzt sofort soll ich mich anziehen, er hätte eine Massage gebucht. Da kann ich schlaftrunkend nichts weiter erwidern und bin sowieso der Meinung, dass mein geschundener Rücken mal was Gutes verdient hat. Ich schwinge mich auf den Roller und bereue es in
dem Moment, als wir auf die „Poppies“ biegen. Die Straße ist nur knapp 2 Meter breit und überbevölkert mit Menschen, Rollern, Verkaufsständen und schlafenden Katzen. Aber als würde die Straße uns allein gehören, brettert Pablo durch die Gasse, hupend, gestikulierend, mit dem deutschen blonden Mädchen hinten drauf, das tausend Tode stirbt – sekündlich. Ich kreische und weine und flehe ihn an, doch vorsichtiger zu fahren. Zwischen meinem verzweifelten Gegluckse muss ich vor lauter Aufregung so sehr lachen, dass ich mich verschlucke und nach Luft schnappe, was ein paar Insekten (faustgroß) dazu einlädt, direkt in meinen Mund zu fliegen. Man mag es nicht glauben, aber der Verkehr funktioniert! Und liebe Eltern, den nächsten Absatz solltet ihr besser überspringen…


selbstverständlich finden auch die Surfbretter Platz!
Wir reihen uns in das kollektive, geordnete Chaos ein – überholen links und rechts, mal weichen wir auf den Bürgersteig aus, wo die Touristen wie selbstverständlich Platz machen. Auf manchen Rollern fahren sogar ganze Familien: ein Kleinkind (ohne Helm natürlich), eingeklemmt zwischen Lenker und dem Vater, der kaum größer ist als ein weiteres Kind, das auf seinem Schoß sitzt. Hinter ihm seine Frau, die in jeder Hand und auf dem Kopf große Einkaufstüten balanciert. An ihren Rücken ist ein Baby geschnallt. Manche transportieren sogar noch ein paar Möbel, Surfbretter oder Hühner, und jegliches Verständnis für Platz nimmt ganz andere Dimensionen an. Ich bin fasziniert, wie viele Menschen und Gegenstände auf einem Roller untergebracht werden können! Von den vorbeirasenden Autos im Kreisverkehr trennen mich nur noch Millimeter. Wir müssen ständig scharf bremsen, weil sich aus den Hofeinfahrten immer mehr Fahrräder, Roller und auch mal Pferdekutschen auf die Straße drängeln. Das alles bei Tempo 60 und ohne Rücksicht auf Verluste.

Nach einer halben Stunde Nervenkitzel kommen wir endlich in der Wohlfühlstube an, wo mir ein junger Balinese zwei Stunden auf dem Rücken rumtrampelt. Für nur 8 Euro bekomme ich eine Shiatsumassage, die sich so anfühlt als würde mich eine Dampfwalze überfahren. Der Masseur bohrt seine Zehen in meine Oberschenkel, knetet Muskeln zwischen meinen Rippen, von deren Existenz ich nie wusste und haut auf meine Fußsohlen, dass es nur so klatscht. Mein Körper gibt merkwürdige Geräusche von sich; es knackt und ächzt wie ein alter Baum; ich bin überwältigt von angenehmen Schmerzen, die sich bald zu einem einzigen warmen Gefühl ausbreiten.

Wie neugeboren starten wie den nächsten Tag mit einer weiteren irrwitzigen Rollerfahrt quer über die Insel. Schon bald haben wir das Surfermekka  Kuta verlassen und fahren über kurvige Landstraßen, vorbei an kläffenden Hunden, betenden Frauen und spielenden Kindern. Alle scheinen hier glücklich zu sein – ich lasse mich davon anstecken, grinse vor mich hin und lasse mir den kühlen Fahrtwind ins Gesicht blasen. Die Landschaft ist so schön, dass ich heulen möchte. Die Balinesen sind die Anmut in Person – der Superlativ von „hinreißend“ würde ihnen noch nicht gerecht werden. Alle haben sie diese hohen Wangenknochen an den feucht schimmernden tiefbraunen Augen, die immer zu lächeln scheinen. Die vollen Lippen und der dunkle, gleichmäßige Teint unter den schwarzen Haaren verzaubern mich. Welche Schönheit die Natur doch hervorbringt!
der Ausblick entschuldigt die Todesangst auf dem Roller
Juan alias jemand anderes und ich am Strand

Nach einer halben Stunde erreichen wir die kleine Bucht an der Westküste. Riesige Monsterwellen brechen an den Steilwänden und rauschen betäubend laut in meinen Ohren. In einer kleinen Strandbar trinken wir einen frisch gepressten Melonensaft und während ich noch entspanne, blickt Pablo schon unruhig aufs Meer. Das sei nicht der richtige Platz, meint er. Wir müssten noch „ein paar Meter weiter“, dorthin, wo die Wellen jedes Surferherz höher schlagen lassen. Die paar Meter entpuppen sich als selbstmörderischer Spaziergang: wir klettern über die Vulkansteine, die so spitz und
scharf sind, dass ich sie schmerzhaft durch meine Flipflops spüre. Ja, warum machst du denn so was auch immer mit Flipflops, würde jetzt manch einer sagen, und ja nun, würde ich antworten, meine Riesenfüße passen nun mal nicht in asiatische Größen. Und so rutsche ich mehrmals auf den glitschigen Steinen ab, lasse dabei ein paar Quadratzentimeter Haut zurück und auch einen Fingernagel, bei dem Versuch, gekonnt über einen ekligen Krebs zu springen. Ich jammere und verfluche Pablo für diese Tortur; besonders als eine extra große Welle über mich kommt und von Kopf bis Fuß einnässt. Damit er mich auch versteht, schreie ich bei jedem spitzen Stein laut „Puta“, das einzige spanische Schimpfwort, das mir in Zeiten des Schmerzes einfällt. Aber alles Jammern hilft nichts; Pablo und Juan alias jemand anderes lachen nur und hüpfen wie junge Gazellen über die Krater und Schluchten.
mein Feind, die Monsterwelle

Völlig fertig erreichen wir endlich den heißbegehrten Strandabschnitt, wo ich mich laut schluchzend auf mein Handtuch kauere und die Welt verfluche. Aber nur für ein paar Minuten – ein bisschen Selbstmitleid tut den geschundenen Füßen so gut!  Meine beiden argentinischen Freunde lassen alles stehen und liegen und stürzen sich in die Wellen; ich sehe nur noch ihr weißes Maurerdekolletee an den hummerfarbenen Körpern ins Wasser tauchen. Großartig, denke ich, macht ihr mal, ich lese inzwischen mein neues Buch „Eat, pray, love“, ein Bestseller von einer depressiven Frau, die vor den Trümmern ihres Lebens steht und sich bei ihrer Reise durch Italien, Indien und Indonesien auf die Suche nach spiritueller Erleuchtung macht. Es wurde mir schon kurz nach meiner Ankunft in Malaysia empfohlen, aber da habe ich es noch als religiösen Humbug abgetan. Nach drei Monaten in Angesicht zum Islam und den neuen Erkenntnissen über mich selbst bin ich allerdings auch auf der Suche. Zwischen Moslems, Touristen und Affen habe ich mehr als einmal ein seltsames Gefühl verspürt, das mich antreibt. Wohin und warum, wusste ich nicht, bis ich gestern in dem Second-Hand-Buchladen stehe und meine Hand wie automatisch in eine Richtung wandert – zu genau diesem Buch. Ich kaufte es sofort. Und als ich jetzt an diesem einsamen Strand liege und die ersten Seiten lese, passiert etwas Merkwürdiges: die Autorin erzählt von einem braunen Hund, den sie früher einmal hatte. In diesem Moment, gerade als ich den Satz lese, läuft ein kleiner brauner Hund an mir vorbei. Ohne Herrchen, ohne Leine; er guckt mich nur kurz an und ist auch schon verschwunden, ehe ich mich von der seltsamen Erscheinung wieder  gefangen habe. Am Abend soll es noch eine weitere Begegnung dieser Art geben. Nachdem ich nun fest beschlossen hatte, es mal mit Meditieren zu versuchen, spricht mich in einer Bar ein junger Mann an. Er kommt aus Australien (wie alle hier) und fragt mich, ob ich schon „eat, pray, love“ gelesen hätte.  In dem Buch erzählt die Autorin bald nach der Hundegeschichte von einem Medizinmann, der auf Bali lebt. Er hätte ihn gefunden und wolle ihn bald besuchen. Er gibt mir die Adresse. Nächste Woche fahre ich hin… 

Aber jetzt liege ich noch am Strand und genieße die himmlische Ruhe. Pablo und Juan alias jemand anderes treiben weit weg und versuchen, die mächtigen Wellen zu bezwingen. Die Sonne brennt. Keine Menschenseele, nur ich und mein Buch und die feinen indonesischen Zigaretten, die einen süßen Vanillegeschmack auf den Lippen hinterlassen. Müßiggang in seinem ganzen Ausmaß. Es ist herrlich. Und gerade als ich mich so schön bräsig von der Sonne braten lasse, tappe ich in eine Touristenfalle: ich beschließe nämlich, nur kurz ins Wasser zu gehen, um mich ein bisschen abzukühlen. Arglos gehe ich ein paar Schritte; da werden die Wellen schon höher, aber längst nicht so hoch, dass sie mir etwas anhaben könnten. Ich wage mich also weiter. Kurz drehe ich mich um, um nach meiner Tasche zu sehen und in diesem Moment reißt es mir die Beine weg. Ich werde meterweit weggespült von diesem Monstrum, das sich scheinheilig vor mir aufgebaut hat, um mich jetzt zu vernichten.  Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist; tauche unter und schlucke literweise Wasser, weil mir der Mund von diesem plötzlichen Schrecken noch offen steht. Sämtlicher Mascara verteilt sich augenblicklich über meinem Gesicht und als das Meer mich endlich wieder ausspuckt, liege ich zersaust und jammernd im seichten Wasser. Kleine Wellen plätschern um meine Füße, als würden sie das ungeheuer komisch finden. Ich spucke salzige Galle und reibe mir die tränenden Augen. Ich spüre Sand in sämtlichen Körperöffnungen, die hier nicht weiter erwähnt werden sollten. Es scheuert, juckt und brennt. Alles tut weh! Ich schleppe mich zu meinem Handtuch und versuche mich zu erholen. Aber keine fünf Minuten später – ich habe gerade eine Muschel aus meinem Ohr gepuhlt – fallen hunderte von Moslems in Scharen an dem Strand ein. Es müssen wenigstens fünf    Reisebusse gewesen sein, die sie hier angekarrt haben! Die kopftuchtragenden Frauen lassen sich von ihren Männern vor den Wellen fotografieren – und dann auch noch mit mir. Jeder, der mich entdeckt, hält es für selbstverständlich, mit mir auf einem Foto zu sein, als wäre ich eine verdammte Statue! Freundliche Floskeln sind  Zeitverschwendung und so heißt es nur noch „Fotofotofoto?“, begleitet von einer knipsenden Handbewegung. Und ehe ich nein sagen kann, hocken sie schon neben mir, von Kopf bis Fuß verhüllt; ich in meinem weißen Bikini, mit Sonnenbrand und Sand im Gesicht, schwarzen Tuscheringen unter den Augen und ohne Sonnenbrille. Die wurde nämlich von meinem Feind, der Monsterwelle, verschluckt. Es tut mir weniger um das billige Ray-Ban-Plagiat leid als um die Tatsache, dass es die nächsten hundert Jahre im Meer treiben wird und sich vielleicht ein Fisch daran verschluckt. Aber für solches Mitleid bleibt mir zwischen all den Moslems keine Zeit – ich versuche nur, nicht allzu dümmlich zu gucken, wo ich doch so elendig aussehen muss. Später werden sie ihren Familien zuhause erzählen, was das für eine komische Weißnase war, die da am Strand lag wie ein gestrandeter Wal. „Das hättest du sehen sollen, toll war das, so eine ganz exotische Art von Mensch; komisch sah das aus, hihi.“





Pablo und Juan alias jemand anderes kommen zurück, als es dämmert. Wie bewundern den schönsten Sonnenuntergang, den ich je in meinem Leben gesehen habe. Die Farben sind unbeschreiblich. Und würde Pablo mich jetzt nicht nötigen, den gleichen Weg zurück zu gehen den wir gekommen sind, wäre ich einfach zufrieden. Aber all mein Gezetere und Geheule nützt nichts; ich muss noch einmal über die spitzen Steine und verstauche mir dabei den kleinen Zeh.

Nunja, meine ersten Tage auf Bali sind also geprägt von Schmerzen und Schönheit. Eine gute Mischung wie ich finde; das macht die Empfindungen so herrlich intensiv. Jetzt kehre ich zurück in unseren Bungalow, der wahrscheinlich noch ein wenig dreckiger ist als heute Morgen; wo die Handtücher schon stehen vor Schmutz und zwei sonnenverbrannte Argentinier wimmernd darauf warten, dass ich ihnen den Rücken eincreme…
In diesem Sinne, sonnige Tage, und bis bald.


schmerzhaft schön...