Wenn die Sonne nicht mehr aufgeht

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Wenn die Sonne nicht mehr aufgeht

Ein Anschlag der Taliban auf Kabul raubte Nafiseh die Kindheit. Nach Jahren der Flucht lebt sie seit 2 Jahren in Malaysia. Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben lässt auf sich warten – das Land hat noch immer nicht die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben.

Ein Sonnenaufgang sollte es werden. Die 13jährige Nafiseh malte gerade das Meer blau aus, als sie das Unheil durch ihr Zimmerfenster kommen sah. Am Himmel zogen graue Wolken auf, die in weiter Ferne dunkle Schatten Richtung Kabul trieben. Mit dem ersten Donnergrollen fielen die Taliban in die Stadt ein; ein Blitzschlag war wie das Zeichen zum Schießen und die Menschen stoben auseinander, um dem plötzlichen Kugelhagel zu entfliehen. Mit irrem Blick jagten die Schützen durch die Straßen und feuerten auf alles, was sich bewegte. Schreie hallten durch die Gassen und drangen bis in die Keller, wo sich Familien aneinander gekauert vor dem Tod versteckten. Nur Nafiseh tat das Gegenteil. Statt sich in Sicherheit zu bringen, rannte sie aus dem Zimmer auf die Straße, hinein in die zischenden Geschosse. Als dann das Blut auf sie spritzte, blieben ihr nur ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass es das ihrer eigenen Mutter war. Ein Nachbar zog sie geistesgegenwärtig in einen Hauseingang.
Als die Taliban abzogen, hinterließen sie einen Ort der Verwüstung. Die plötzliche Stille wurde nur von den Klagerufen der Verletzten gebrochen, über die sich ein sanfter Nieselregen legte. Nafiseh konnte ihre Mutter kaum von den Sterbenden unterscheiden. Nur knapp überlebte sie diesen Angriff. Und gleichzeitig war er das Ereignis, das etwas in Nafiseh sterben ließ. Ihre Kindheit rann durch ihre Hände wie das Blut der Mutter und wurde von der dreckigen Straße aufgesaugt.
als Flüchtling anerkannt

Ein Flüchtling ist eine Person, die «aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.»  (Auszug aus der Genfer Flüchtlingskonvention).

Am 28. Juli 1951 wurden diese Worte auf der UN-Sonderkonferenz in Genf formuliert. Sie stehen noch heute für Millionen Menschen, die alles verloren haben. Die ein Leben im seelischen Ghetto fristen, wo es  dunkel, trist und freudlos ist. Mit jedem weiteren Tag werden die kleinen Hoffnungsschimmer, die manche wagen, mit Füßen getreten. Als Flüchtling gehört man nirgendwo hin. Nafiseh und ihre Familie sind nur Teil einer beispiellosen Statistik, die vom UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees)  geführt wird. 50 Millionen Flüchtlinge weltweit; davon 3 Millionen in Malaysia, von denen wiederum 1 Million illegal eingewandert sind. Wie viele Menschen auf der Flucht gestorben sind, kann nicht erfasst werden. Und auch die Familien, die auseinander gerissen wurden, sind nie gezählt worden. Für so etwas bleibt keine Zeit, denn täglich kommen rund 2000 Flüchtlinge zum UNHCR in Kuala Lumpur, um Hilfe zu suchen. Doch die meisten werden ernüchtert und ohne Hoffnung wieder in die armseligen Wohnblocks am Rande der Stadt zurück kehren. Dorthin, wo es keine Bürgersteige gibt; wo die schmutzigen Hochhäuser wie Grabsteine aus dem Boden ragen; wo sie den Menschen, denen es besser geht, nicht die scheinbar heile Welt verderben. In einem dieser Elendsviertel lebt Nafiseh heute mit ihrer Familie. Drei ältere Brüder, Mutter, Vater, eine Tante und eine Bekannte mit einem Säugling teilen sich die 50 Quadratmeter große Wohnung. Nafiseh ist erst 17 Jahre alt, doch seit dem Angriff damals in Kabul ist alles Kindliche aus ihrem Wesen verschwunden. Ihre Mimik ist ernst, die Stimme ruhig und dunkel. Sie erzählt von ihrem Leben wie eine Nachrichtensprecherin – deutlich, emotionslos, ohne Schnörkel.
die Aussichten im Flüchtlingsviertel sind düster
Zwei Jahre lang lebte sie auf der Flucht durch Iran und Pakistan, immer auf der Suche nach einer neuen Heimat, nach ein bisschen Schutz und Sicherheit. Doch auch in Pakistan waren die Taliban allgegenwärtig und in Iran akzeptierte man sie nicht. Vor drei Jahren kamen sie nach Malaysia, als Touristen. 30 Tage blieben ihnen – im Eilverfahren erteilte ihnen der UNHCR den Flüchtlingsstatus. Nafiseh und ihre Familie erhielten Identitätskarten, die sie seitdem immer bei sich tragen. Offiziell stehen sie damit unter dem Schutz des UNHCR; sind als Flüchtlinge anerkannt.
Als Flüchtling anerkannt. Was erst einmal so klingt, als könne man kurz aufatmen; ist beim zweiten Blick ein Zeugnis des Elends. Schulbesuch, Freizeit oder Sportverein – solche Wörter sind den Flüchtlingen fremd. Stattdessen gibt es in Malaysia mehrere Selbsthilfegruppen. Zwischen Kunsthandwerk, Koch- oder Schneiderkursen soll ein Hauch von normalem Leben stattfinden. Ein schwacher Trost, aber ein Zipfel Alltag, an den sich die Flüchtlinge klammern wie ein Äffchen an die Mutter. Denn ihre Situation ist alles andere als hoffnungsvoll - noch immer fehlt jegliche Rechtsgrundlage.
Nafisehs Eltern im Wohnzimmer
Flüchtlinge in Abschiebungshaft
Eine ansatzweise Regelung zum Umgang mit Flüchtlingen existiert bisher nur im Malaysian Immigration Act (MIA). Der wurde 1963 verfasst und ist bis heute gültig. Hier sind die empfindlichen Strafen aufgeführt, die den bösen Eindringlingen verhängt werden sollen; oder auch die Regeln zur Abschiebehaft. Dass dabei jegliche Menschenrechte ignoriert werden, ist nur ein bitterer Beigeschmack des ganzen Übels. Vierzig Menschen auf engstem Raum - keine Seltenheit hinter den Gittern der Flüchtlingslager. Männer von ihren Ehefrauen trennen - bald schon ein Volkssport bei den Grenzbeamten. Strafen, Paragrafen, Anweisungen. Alles da, was das Beamtenherz begehrt; nur eines lässt diese Regelung schmerzlich vermissen: eine Definition, wer illegaler Einwanderer ist und wer tatsächlich Flüchtling. Kurzum: jeder, der ohne Aufenthaltsgenehmigung angetroffen wird, wird verhaftet. Da nützt es auch nichts, dass Malaysia Mitglied des UN-Rates für Menschenrechte ist, wenn das Land nicht nach diesen Grundsätzen handelt. Da klingt es wie Hohn, wenn man erfährt, dass Malaysia die UN-Menschenrechtserklärung und sogar die UN-Erklärung zu Asylsuchenden unterzeichnet hat. Papier ist eben geduldig. Und so ist der Willkür der Grenzbeamten keine Grenze gesetzt. 

Begrenzt dagegen sind die finanziellen Mittel der Flüchtlinge. Wie Nafisehs Familie müssen sie tagtäglich um ihren Lebensunterhalt kämpfen. Es gibt keine Sozialhilfe und keine Möglichkeit, legal an Geld zu kommen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Arbeiten mit den makabren 3 D’s anzunehmen:  dirty, dangerous, difficult. Und unlängst durch demeaning ergänzt – erniedrigend. 
Auch Nafiseh würde gern arbeiten; ein bisschen Geld verdienen, um der Mutter die Sorgen zu nehmen. Aber Nafiseh hat Depressionen. Schlimme Alpträume verfolgen sie, in denen sie immer wieder in die Vergangenheit reist. Zurück nach Afghanistan. Zurück zu der Straße, in der sie einmal wohnte. Von ihrem Zimmerfenster beobachtet sie das Massaker auf dem nahe gelegenen Feld, wo die Taliban einige Frauen und Kinder zusammen treiben. Sie werden in eine Grube gestoßen und erschossen.

Jede Woche, immer montags, fährt Nafiseh zu dem weißen Gebäude nahe der Petronas Towers im Zentrum. Dort wartet sie dann mehrere Stunden vor dem Büro ihrer Sachbearbeiterin, die später einen Vermerk in die Akte schreiben wird: 17jährige Tochter der afghanischen Flüchtlingsfamilie fragt nach Aufnahme in ein Drittland (Kanada). Abgelehnt.
Wenn Nafiseh dann zu ihrer Mutter zurück kehrt, überbringt sie die sich allwöchentlich wiederholende Nachricht: Kanada nehme dieses Jahr keine Flüchtlinge mehr auf; auch Dänemark nicht oder Deutschland. Der Frieden in Afghanistan sei so weit wieder hergestellt, dass die Familie nach Kabul zurück kehren könne.
eines von Nafisehs Portraits
Dass Nafiseh und ihre Familie weder zurück können noch wollen, spielt bei der Sachbearbeitung keine Rolle. Es geht nicht um Gefühle oder Sehnsüchte. Es geht auch nicht um die Tatsache, dass Kabul noch immer ein einziges Schlachtfeld ist, in das zurück zu kehren reinster Selbstmord wäre. Zumindest für Nafiseh und ihre Familie. Denn der Vater, damals Anhänger der Demokraten in Afghanistan, würde augenblicklich erschossen werden, sobald er einen Fuß in sein Heimatland setzte. Er ist ein intelligenter Mann, studierter Ingenieur und ein kritischer Denker. Ein gefährlicher Gegner für die Taliban. Sie zwangen ihn, für sie zu arbeiten und als er sich weigerte, entkam er nur knapp den Schüssen, die sie wutentbrannt und geisteskrank auf ihn abfeuerten. Die Wunden sind heute vernarbtes Gewebe. Eine Kugel steckt noch immer in seinem Knie; es schmerzt, wenn das Wetter wechselt. Unter dem Kinn der Mutter prangt ein hässlicher weißer Fleck. Als sei das Gesicht eine Landkarte, ziehen sich Falten wie Flüsse entlang der Wange; tiefe Furchen einer Kraterlandschaft gleich schlängeln sich vorbei an den Augen, die immer feucht sind wie ein kleiner See. Wer in diese Augen blickt, kann erahnen, wie schön sie einmal gewesen sein muss. Doch die Jahre als Flüchtling haben sie gezeichnet. Sie gibt kaum noch Acht auf sich selbst, muss immer wieder laut schluchzen und verschwindet ins Nebenzimmer, um die Gäste nicht zu stören. Der Vater richtet dann den Blick zu Boden, als würde er sich schuldig fühlen. Eingesunken in das verschlissene Sofa lässt er die Hände in den Schoß fallen und blinzelt schnell ein paar Tränen weg. Er sitzt dort wie ein alter Professor, in seinem Anzug, den er jeden Tag bügelt, obwohl er nie zur Arbeit geht. 
Denn die ist angesichts der sogenannten  Bumiputra-Politik den Malaysiern vorbehalten. Den privilegierten Einwohnern, die ihr Zweite-Welt-Land in den nächsten zehn Jahren zu einer Industrienation bringen wollen. Nicht zuletzt mit den etlichen Gastarbeitern, die für einen Hungerlohn arbeiten müssen. Nach den schon nicht mehr ganz so privilegierten Chinesen und noch viel weiter nach den armen Indern flackert das Schlusslicht aus Menschen, die nicht einmal mehr eine Nationalität ihr eigen nennen können. Sie sind nur noch „die Flüchtlinge“. Staatenlos, hilflos, mittellos. Und rechtelos. Denn das Land weigert sich, die Genfer Flüchtlingskonvention zu unterschreiben. Wie ein bockiges Kind stellte sich die Regierung gegen jegliche Kooperation mit dem UNHCR. Das ist sehr viel bequemer – und vor allem sicherer. Denn die Vorbereitungen auf die nächste nationale Wahl laufen schon. Mit dem Verweis auf ihr hartes und konsequentes Durchgreifen gegenüber den Flüchtlingen sollen Punkte gesammelt werden. Auch das Vorbild Singapur ist ein Evergreen. Immerhin schützt die Regierung ihre Bevölkerung und auch die Wirtschaft vor den Nachteilen dieser Flüchtlingswelle. Die fehlende Unterschrift lässt Malaysia also freie Hand.

Zwar gab es in den letzten Monaten erstmals nennenswerte Veränderungen: die Regierung äußerte sich öffentlich zur Situation der Flüchtlinge und stellte sogar in Aussicht, legale Arbeit für die Flüchtlinge zu dulden. Doch ob solche Versprechen eingehalten werden, ist angesichts der vergangenen Ereignisse fraglich. 2004 kam eine gewaltige Flüchtlingswelle aus Myanmar nach Malaysia. Statt frei zu sein, wurden sie gefangen und in die gefürchteten Lager gesteckt. Als die Regierung  versprach, ihren Aufenthaltsstatus endgültig zu regeln, hatten sie wieder Hoffnung. Gegen eine Gebühr sollten sie spezielle Ausweisdokumente bekommen. Und tatsächlich begann das Innenministerium mit der Registrierung. Bis es im Jahre 2006 den ganzen Prozess stoppte – ohne den bis dahin 5.000 erfassten Flüchtlingen die Erlaubnis zu gewähren. Und ohne ihnen ihr Geld zurück zu geben. Als der UNHCR um Zugang zu den Lagern bat, verweigerte die Regierung jegliche Zusammenarbeit. Stattdessen kritisierte der Innenminister die Organisation aufs Schärfste. Sie behindere nur die Abschiebung der Flüchtlinge. Außerdem sei er in keiner Weise zur Kooperation verpflichtet.
Bis heute sitzen noch immer 173 Männer, Frauen und Kinder im Lenggeng Immigration Detention Center – keiner kann raus, keiner kann rein. Und das alles wegen einer fehlenden Unterschrift unter der Genfer Konvention.
Malen als einziger Ausdruck ihrer Gefühle

Nafiseh sitzt nicht in diesen Lagern. Sie ist schon gefangen – in ihrem ganz persönlichen Alptraum, in dem die Frauen und Kinder vor ihren Augen erschossen werden. Die Tage waren wie Nächte. Als würde die Sonne nie mehr aufgehen – so fühle es sich an, wenn man die Hoffnung verliert. Letztes Jahr, da hatte sie keine Kraft mehr, mit diesen Träumen zu leben. Da nahm sie eine Überdosis Paracetamol; in der Hoffnung, nur noch ein einziges Mal einschlafen zu müssen. Der sozialärztliche Notdienst bescheinigte ihr eine posttraumatische Belastungsstörung; eine Psychotherapie wurde angeraten. In den westlichen Ländern werden solche Symptome mit viel Aufwand, Geld und Zeit behandelt. Undenkbar und in weiter Ferne liegen diese Dinge für Nafiseh. Auch Krankenversicherungen kommen im Flüchtlingsvokabular nicht vor.
Die seelischen Wunden schmerzen. Um sie zu ertragen, malt sie. Sie malt  Portraits von verhüllten Frauen; Rosen und Stillleben. Am liebsten aber zeichnet sie weite Landschaften, mit sattgrünen Tälern und azurblauen Flüssen. Nur Sonnenaufgänge, die gibt es auf diesen Bildern nicht.


Marthe Rennert